Kommentar Sterbehilfe hautnah: Wie sich eine Euthanasie im engeren Umfeld anfühlt
Als sich der alte Herr plötzlich immer schwächer fühlt, prüft der Hausarzt die Blutwerte. Das Blutbild weckt den Verdacht auf eine Leukämie, die weiterführende Diagnostik bestätigt eine CLL. Auf die nun folgende Chemotherapie spricht der Senior in puncto Laborwerte gut an, er hat auch keine gravierenden Nebenwirkungen. Dennoch nimmt seine körperliche Schwäche stetig zu. Jeder Schritt fällt ihm schwer, selbst für das Öffnen seiner abendlichen Flasche Bier brauchte er Hilfe. Für ihn ein kaum tolerabler Zustand. Gleichzeitig verschlimmert sich die Demenz seiner Frau, immer häufiger vergisst sie abends, nach ihm zu fragen. Das lässt auch noch seinen letzten Lebenswillen schwinden. Schließlich entscheidet er sich, die in den Niederlanden bestehende Möglichkeit der Euthanasie in Anspruch zu nehmen.
Zunächst kommt die Hausärztin zu ihm und prüft in einem langen Gespräch und im Beisein seiner Tochter, ob er geistig gesund ist und wirklich sterben will. Eine Woche später kommt sie wieder, um sich erneut der Ernsthaftigkeit seiner Absicht zu versichern. In der Zwischenzeit muss er auf einem DIN-A4-Blatt handschriftlich notieren, warum er nicht mehr leben will. Nachdem die Hausärztin auch beim zweiten Besuch den klaren Todeswunsch bestätigt sieht, wird ein sogenannter SCEN-Arzt eingeschaltet. Die Abkürzung SCEN steht im Niederländischen in etwa für Unterstützung und Beratung bei Euthanasie. Der SCEN-Arzt kommt schon nach zwei Tagen, fragt den Senior erneut gründlich aus und gibt danach sein OK. Daraufhin wird mit der Hausärztin ein Termin zur Durchführung der Sterbehilfe in der darauffolgenden Woche vereinbart. So weit die Fakten.
Ich sehe meine Freundin in dieser Zeit jeden Tag, bekomme jeden Schritt im Euthanasieprozess mit. Freunde und Bekannte nehmen bei gemeinsamen Spaziergängen ebenfalls regen Anteil. Mit einer Selbstverständlichkeit akzeptieren alle, dass der 92-Jährige sich für die Euthanasie entschieden hat und diskutieren sachlich über das Prozedere.
Mir als Deutsche bleibt anfangs regelmäßig die Luft weg. Schon das Wort Euthanasie löst bei mir Gänsehaut aus. Wenn die anderen mich fragen, was ich denn zu diesem und jenem Punkt sagen würde, bringe ich nur wenig heraus und wiederhole immer, dass ich es nicht weiß, weil das Ganze bei uns nicht geht. Das wiederum bringt die Niederländer aus der Fassung, denn die meisten wissen gar nicht, dass aktive Sterbehilfe bei uns verboten ist: „Wie kann das sein, dass Ihr Euch nicht dafür entscheiden könnt? Ihr seid doch so ein fortschrittliches Land? Nicht zu glauben!“
Die Entscheidung wird respektiert
Ich frage natürlich auch meine Freundin immer wieder, wie sich das alles anfühlt. Sie hat ein enges Verhältnis zum Vater und leidet immens. Doch sie sagt einen für mich entscheidenden Satz: „Wer bin ich, dass ich meinem Vater vorschreibe, dass er am Leben bleiben muss?“ Das stimmt mich sehr nachdenklich: Darf man jemanden erlösen, der – ohne eine psychische Grunderkrankung – jeden Lebenswillen verloren hat? Mit jedem Tag und Schritt, der vergeht, mache ich mich mit dem niederländischen Weg der Euthanasie vertrauter und er verliert mehr und mehr von seinem Schrecken.
Seitdem sind nun einige Wochen vergangen und das Erlebte konnte ein wenig sacken. Mein Fazit: Ich persönlich befürworte die Möglichkeit, aktive Sterbehilfe wählen zu können. Ob ich mich selbst im Fall der Fälle dafür entscheiden würde, kann ich nicht sagen. Genauso wenig wüsste ich, ob ich fähig wäre, sie als Ärztin bei einem Patienten durchzuführen – verpflichtet ist man dazu auch in den Niederlanden nicht.
Im Fall des Vaters meiner Freundin kam dann doch alles anders als geplant: Kurz nach dem Besuch des SCEN-Arztes stürzte er zu Hause und zog sich großflächige Ablederungen und Schürfwunden zu. Ins Krankenhaus zu gehen, lehnte er ab. Die Wunden infizierten sich und er starb drei Tage vor dem Euthanasietermin.
Dr. Anja Braunwarth
Redaktion Medizin
Quelle: Aus der Redaktion