Motivierte Koalition Viele gute Pläne ohne ausreichende Finanzierungsstrategie

Gesundheitspolitik Autor: Cornelia Kolbeck/Michael Reischmann

Die neue Koalition verspricht, vieles zu verändern, die Finanzierbarkeit ist noch unklar. Die neue Koalition verspricht, vieles zu verändern, die Finanzierbarkeit ist noch unklar. © Andreas Prott – stock.adobe.com; Gina Sanders – stock.adobe.com

In dem von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP ausgehandelten Koalitionsvertrag findet sich zur Gesundheitspolitik vieles, was im Vorfeld der Bundestagswahl gefordert worden war. Ob die großen Pläne finanzierbar sind, bleibt unklar. Und die Pandemie hängt wie ein Damoklesschwert über allem.

Der Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP hat 177 Seiten. 198 Mal kommt darin das Wort „Klima“ vor, „Gesundheit“ 87 Mal und „hausärztlich“ einmal: „Wir heben die Budgetierung der ärztlichen Honorare im hausärztlichen Bereich auf.“ Dr. Pedro Schmelz, KV-Vize in Bayern, gönnt das den Hausärzten, vermisst aber einen entsprechenden Plan für die Fachärzte. Immerhin: Die Wörter „ärztlich“ und „medizinisch“ stehen mehrfach im Koalitionspapier, z.B. hier:

  • Schwangerschaftsabbrüche sollen Teil der ärztlichen Aus- und Weiterbildung sein. Ärzte sollen öffentliche Informationen über Schwangerschaftsabbrüche bereitstellen können, ohne eine Strafverfolgung befürchten zu müssen (Streichung von § 219a StGB).
  • Ermöglichen regelhaft telemedizinischer Leistungen inklusive Arznei-, Heil- und Hilfsmittelverordnungen sowie Videosprechstunden, Telekonsile, Telemonitoring und die telenotärztliche Versorgung.
  • Die Notfallversorgung soll in integrierten Notfallzentren in enger Zusammenarbeit zwischen KV und Krankenhäusern erfolgen. KVen können die ambulante Notfallversorgung dort selbst sicherstellen oder diese in Absprache mit dem Land ganz oder teilweise auf die Betreiber übertragen.
  • Das Gründen kommunal getragener MVZ und deren Zweigpraxen wird erleichtert. Entscheidungen des Zulassungsausschusses müssen durch die zuständige Landesbehörde bestätigt werden.
  • Die Gendermedizin wird Teil des Medizinstudiums, der Aus-, Fort- und Weiterbildungen der Gesundheitsberufe.
  • Künstliche Befruchtung wird auch bei heterologer Insemination vom Bund gefördert, zuerst mit 25 % der Kosten, später vollständig – unabhängig von medizinischer Indikation, Familienstand und sexueller Identität. Embryonenspenden im Vorkernstadium werden legalisiert, der „elektive Single Embryo Transfer“ wird zugelassen.
  • Investitionen in Forschung, „um High-Medizintechnik made in Germany“ zu ermöglichen.

Diese Liste lässt sich mit Begriffen wie „Psychotherapie“ und „Pflege“ weiterführen. Beispielsweise:

  • Der Einsatz der Pflegekräfte in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen während der Pandemie soll anerkannt werden. Eine Milliarde Euro stellt der Bund dafür zur Verfügung und die Steuerfreiheit des Pflegebonus wird auf 3.000 Euro angehoben. Ein MFA-Bonus ist jedoch nicht angedacht.
  • Entscheidungen im G-BA werden beschleunigt; Patientenvertretung, Pflege und andere Gesundheitsberufe sollen mehr Mitsprache erhalten.
  • Schmerzmittel laut Betäubungsmittelgesetz werden für Gesundheitsberufe delegationsfähig.
  • Der Beitrag zur Sozialen Pflegeversicherung wird „moderat“ angehoben. Geprüft wird eine Ergänzung um eine freiwillige, paritätisch finanzierte Vollversicherung, die die Pflegekosten umfassend absichert. Eine Kommission soll bis 2023 Vorschläge vorlegen.
  • In der stationären Pflege werden die Eigenanteile zum 1. Januar 2022 begrenzt.

Im Fokus: Einsatz von Lotsen und Gemeideschwestern

Auch unter „Patient“ wird man fündig: „Alle Versicherten bekommen DSGVO-konform eine elektronische Patientenakte zur Verfügung gestellt; ihre Nutzung ist freiwillig (opt-out).“ Bürger können dann die ePA ablehnen oder Datenfreigaben ausschließen. Hier folgen die Ko­alitionäre einem Vorschlag des Sachverständigenrates fürs Gesundheitswesen, der die jetzige Opt-in-Lösung für umständlich hält. Dazu passt die Ankündigung eines Regis­ter- und eines Gesundheitsdatennutzungsgesetzes sowie des Aufbaus einer dezentralen Forschungsdateninfrastruktur.

Als Stichwortlieferanten für Satirebeiträge, etwa in der „heute show“, haben es Ankündigungen wie diese geschafft:

  • Krankenkassen können künftig Verhütungsmittel als Satzungsleistung erstatten. Bei Geringverdienenden werden die Kosten übernommen.
  • Einführen der kontrollierten Abgabe von Cannabis an Erwachsene zu Genusszwecken in lizenzierten Geschäften. Aber: Die Regeln für Marketing und Sponsoring bei Alkohol, Nikotin und Cannabis werden verschärft.

Auch der Einsatz von Gemeindeschwestern im ländlichen Raum sowie von Gesundheitslotsen steht im Fokus der Koalitionäre. Die bisherige sektoral getrennte Versorgungsplanung wird zu einer sektorenübergreifenden gemacht, mit Einbezug der Länder. Zur Ambulantisierung unnötig stationär erbrachter Leistungen soll eine sektorengleiche Vergütung („Hybrid-DRG“) beitragen.

Die Einschätzung des Fortschritt-Papiers hängt naürlich vom eigenen Blickwinkel ab – und der späteren Umsetzung. Noch ist der Koalitionsvertrag auch nicht in Kraft. Bei den Grünen muss ein Parteitag zustimmen; die Entscheidung wird am 6. Dezember bekanntgegeben.

Der Vorsitzende des Hartmannbundes, Dr. Klaus Reinhardt, schlägt der designierten Ressortleitung des Gesundheitsministeriums schon mal vor, gemeinsam mit der Ärzteschaft eine „To-do-Liste“ für die ersten 100 Amtstage zu entwickeln. Der Verband sieht den Koalitionsvertrag als „verwertbare Grundlage“ an. Er vermisst allerdings „eine klare Zusage zur überfälligen Umsetzung der neuen GOÄ“.

Der Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbands Martin Litsch kommt zu dem Eindruck: „Die vorgeschlagene Reform­agenda geht grundsätzlich in die richtige Richtung. Es werden fast alle wichtigen Baustellen im Gesundheits- und Pflegebereich benannt.“ Mit Blick auf die Finanzen begrüßt er die geplanten höheren Beiträge aus Steuermitteln für ALG-II-Beziehende und die regelhafte Dynamisierung des Bundeszuschusses zur gesetzlichen Krankenversicherung.

Bei neuen Arzneimitteln soll der nach der Zusatznutzenbewertung verhandelte Erstattungspreis künftig ab dem siebten Monat (heute: ab dem 13.) nach Markteintritt gelten. Die Kassen finden das gut – die betroffenen Arzneimittelhersteller natürlich nicht.

Pauschale Bundeszuschüsse sind keine nachhaltige Lösung

Der Direktor des PKV-Verbandes, Florian Reuther, gibt zu bedenken: „Immer mehr pauschale Bundeszuschüsse an die GKV auf Kosten der Steuerzahler sind keine nachhaltige Lösung. Das wird die Arbeitnehmer und Arbeitgeber sowie vor allem die jüngeren Generationen teuer zu stehen kommen.“

Mehr Mut von der Koalition hatte sich z.B. die Deutsche Diabetes Gesellschaft erhofft. Obwohl an der Volkskrankheit Diabetes heute schon acht Millionen Menschen leiden, sei keine Rede mehr von der Nationalen Diabetesstrategie. Erwähnt werden allein ein „Nationaler Präventionsplan“ und „konkrete Maßnahmenpakete“, z.B. zu Diabetes.

„Besonders bedauerlich ist, dass keine Steuer auf stark gesüßte Erfrischungsgetränke, die sogenannte Zuckersteuer, eingeführt wird“, kritisiert Barbara ­Bitzer, Geschäftsführerin der DDG. Immerhin haben sich die Koalitionäre auf ein Werbeverbot für ungesunde Kinderlebensmittel geeinigt.

Der Deutsche Hospiz- und Palliativverband vermisst die Sorge um Schwerstkranke und Sterbende. Den weiteren Ausbau der Hospizarbeit und Palliativversorgung hätten die drei Parteien in ihr Abkommen aufnehmen müssen.

Die Linke im Bundestag sieht gar „schwerwiegende Konstruktionsfehler“. Gesine Lötzsch, stellvertretende Vorsitzende und Haushaltsexpertin der Fraktion, meint: „Ohne Steuergerechtigkeit, ohne eine solidarische Bürgerversicherung und ohne eine armutsfeste Rente wird die Gesellschaft auseinanderbrechen.“

Auf die Umsetzung der Pandemieregeln kommt es an

Und dann ist da noch die Coronapandemie und das Handlungsdefizit wegen des Machtvakuums während des Regierungswechsels. Der künftige Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) verwies bei der Vorstellung des Koalitionsvertrages darauf, dass schon die ersten Regelungen getroffen wurden und es nun auf eine konsequente Umsetzung ankomme.

Die neue Bundesregierung will einen ständigen Bund-Länder-Krisenstab beim Bundeskanzleramt einrichten, der die Coronalage begutachtet und die Umsetzung der Beschlüsse prüft. Eine Expertenrunde mit u.a. Virologen, Epidemiologen, Soziologen und Psychologen soll täglich an die Regierung berichten. Im Koalitionsvertrag heißt es ergänzend: Zur Erforschung und Versorgung der Langzeitfolgen von COVID-19 sowie für das chronische Fatigue-Syndrom (ME/CFS) wird ein bundesweites Netzwerk von Kompetenzzentren und interdisziplinären Ambulanzen geschaffen.

Medical-Tribune-Bericht