„Abstruse Entscheidung“ – DGN kritisiert US-Zulassung für Antikörper

Manuela Arand

Der Freude, endlich ein neues Alzheimer-Medikament zu bekommen, steht eine dürftige Datenlage gegenüber. Der Freude, endlich ein neues Alzheimer-Medikament zu bekommen, steht eine dürftige Datenlage gegenüber. © iStock/Bet Noire

Die Zulassung des Amyloid-Antikörpers Aducanumab in den USA erzeugt gemischte Gefühle. Der Freude, endlich ein neues Alzheimer-Medikament zu bekommen, steht eine dürftige Datenlage gegenüber.

Aducanumab ist ein monoklonaler Antikörper, der die Blut-Hirn-Schranke passiert und selektiert aggregiertes ß-Amyloid (Aß) angreift. Entwickelt wurde er „aus dem Blut erfolgreich gealterter Patienten, die im Laufe ihres Lebens keine Alzheimer-Demenz entwickelt haben“, erklärte Professor Dr. Jörg Schulz, Direktor der Neurologie an der RWTH Aachen. Eine erste kleine Phase-1b-Studie ergab nicht nur, dass der Antikörper die Amyloid-Last im ZNS dosisabhängig deutlich reduzierte, sondern weckte auch die Hoffnung, dass dies mit einer Verlangsamung des geistigen Abbaus einhergehen könnte. Die Teilnehmer wurden weiter beobachtet – Amyloid- und Kognitionsstabilisierung hielten an.

Mit den zwei placebokontrollierten Studien identischen De­signs, ENGAGE und EMERGE getauft, und zwei Dosierungsschemata (3–6 mg/kgKG und 6–10 mg/kgKG) ging es in Phase 3 der klinischen Entwicklung. Eingeschlossen waren Patienten mit milden kognitiven Defiziten (MCI) oder leichter Demenz infolge einer Alzheimererkrankung, zu zwei Dritteln ApoE4-Carrier und alle mittels PET auf erhöhte Aß-Level im ZNS getestet. Im März 2019 stoppten beide Studien mit dem Argument, Aducanumab könne das Ziel, das Fortschreiten der Demenz zu stoppen, nicht mehr erreichen.

Ansprechen nur eine Frage der Dosierung?

So hieß es in einer Pressemitteilung. Ein halbes Jahr später folgte die Kehrtwende: Man habe weitere Patienten ausgewertet und in EMERGE – nicht aber in ENGAGE – beim primären Endpunkt CDR-SB (Clinical Dementia Rating – Sum of Boxes) eine signifikante Verbesserung gesehen. Tatsächlich waren bei der zweiten Analyse in EMERGE 982 statt 803 und in ENGAGE 1084 statt 945 Patienten eingeschlossen worden.

Ein Schlüssel zum Verständnis der Diskrepanz zwischen den beiden Untersuchungen liegt darin, dass in EMERGE am Studienende mehr Patienten auf Hochdosis waren als in ENGAGE, berichtete Prof. Schulz. Womöglich haben sie schneller von der Therapie profitiert. In ENGAGE fiel die Auswertung neutral aus. Es zeigte sich nicht der geringste Benefit außer bei der Subgruppe von Patienten, die mindestens zehnmal die 10-mg/kgKG-Dosis erhalten hatten.

Kontroverse in den USA

Auch in den USA ist die Zulassung für Aducanumab umstritten. Einige Kliniken haben bereits angekündigt, dass sie den Antikörper nicht verordnen werden, und ein Generalinspekteur untersucht „irreguläre Kontakte“ zwischen FDA-Mitarbeitern und Firmenangehörigen von Biogen, wie Dr. Ezekiel Emanuel, Medizinethiker an der Universität Philadelphia, in einem Editorial in „JAMA“ berichtet. Auf der anderen Seite begrüßen Patientenorganisationen den Zuwachs im therapeutischen Armamentarium. Dr. Emanuel kritisiert vor allem den Zulassungsprozess:
  • Die Korrelation des benutzten Surrogatparameters Amyloidrückgang mit dem kognitiven Abbau sei nicht nachgewiesen.
  • Es fehle eine konkrete Vereinbarung zwischen Behörde und Unternehmen, wie und wie schnell das Medikament weiter untersucht werden muss, um einen klinischen Nutzen zu dokumentieren.
  • Die Indikation für das Präparat müsse sich auf die Patienten beschränken, die in den Studien untersucht wurden. Die FDA hatte Aducanumab eine breite Zulassung für praktisch alle Alzheimer-Patienten erteilt. Inzwischen hat sie das teilweise revidiert.

Das Unternehmen Biogen reichte Aducanumab nach Aufforderung der FDA dann doch zur Zulassung ein. Die Behörde erteilte sie im Juni 2021 im sogenannten Accelerated Approval Pathway – entgegen den Stimmen der unabhängigen Gutachter. Ein solches, eigentlich für die Onkologie entwickeltes Verfahren, existiert in Europa nicht. Es erlaubt eine Zulassung bei positivem Einfluss auf einen Biomarker, ohne dass die klinische Wirksamkeit nachgewiesen sein muss. Mit diesem Nachweis kann sich der pharmazeutische Unternehmer dann Zeit lassen, im Fall von Aducanumab waren es neun Jahre. Prof. Schulz ist davon überzeugt, dass die Zulassung von Aducanumab in den USA eine politische Entscheidung und dem massiven Druck der Patientenverbände geschuldet war. Potenzielle Unternehmensgewinne hätten da weniger eine Rolle gespielt. Er sieht die Zulassung auch als eine Chance nach fast 20 Jahren Stillstand in der Alzheimer-Pharmakotherapie, zumal es unter der Behandlung außer gut handhabbaren Hirnödemen in der MRT und Kopfschmerzen kaum Nebenwirkungen gebe.

Zulassungsantrag bei der EMA eingereicht

Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie bewertet Aducanumab kritisch. „Die Reduktion der Amyloid-Plaques ist nicht gleichbedeutend mit einer klinischen Wirksamkeit“, heißt es in einer Pressemitteilung unter Verweis auf initial negative Studienergebnisse, Studienabbrüche und Post-hoc-Analysen als Zulassungsgrundlage. DGN-Pressesprecher Professor Dr. Christoph ­Diener, Essen, verwies außerdem auf die hohen Jahrestherapiekosten von 56.000 $. Würden nur 5 % der US-Alzheimerpatienten behandelt, resultierten 17 Milliarden $ pro Jahr – da seien die Kosten für monatliche Infusionen, neurologische und MRT-Kontrollen noch nicht eingerechnet. „Das deutsche Gesundheitssystem würde kollabieren“, so Prof. Diener. „Warum die FDA diese abstruse Entscheidung getroffen hat, weiß ich nicht.“ In Europa ist der ­Zulassungsantrag für Aducanumab bei der EMA eingereicht; ob und wann ihm stattgegeben wird, steht in den Sternen.

Kongressbericht: 94. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie – Live. Interaktiv. Digital

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