Leistungsschau der fortgeschrittenen Diabetestechnologie

diatec journal Dr. Andreas Thomas/Prof. Dr. Lutz Heinemann

Schließt sich mit der Entwicklung von AID-Systemen der Kreis hin zu einer „technischen Heilung“? Schließt sich mit der Entwicklung von AID-Systemen der Kreis hin zu einer „technischen Heilung“? © iStock/gerenme

Systeme zur automatisierten Insulindosierung (AID) waren erneut ein zentraler Themenschwerpunkt in Barcelona. Innovationen auf diesem Gebiet sind allerdings eng gekoppelt an Fortschritte bei der konti­nu­ierlichen Glukosemessung. Hier präsentierten die etablier­ten Hersteller etliche Verbesserungen – vor allem was Genauigkeit, Tragedauer und Größe ihrer Sensoren angeht.

Als vor 15 Jahren in Prag der erste ATTD durchgeführt wurde, waren das kontinuierliche Glukosemonitoring (CGM), Systeme zur automatisierten Insulindosierung (AID), Smartpens und Digitalisierung noch kaum verbreitet. Sie wurden entweder in der ersten alltäglichen Anwendungsphase durch oftmals selbstzahlende Patienten und technologieaffine Ärzte genutzt. Oder aber sie waren im experimentellen Stadium an Instituten bzw. in der Industrie, für Menschen mit Diabetes  jedoch noch eine Vision in weiter Ferne (AID-Systeme) oder gedanklich noch gar nicht gereift (Smartpens). 

Unter diesem Blickwinkel gesehen kann man den 15. ATTD-Kongress als eine Leistungsschau der fortgeschrittenen Diabetestechnologie beschreiben. Den Diabetes „technisch zu heilen“, das vermag zwar auch die aktuelle Diabetestechnologie nicht. Sie wird sich aber in den nächsten Jahren diesem Ziel nähern: 

  • mit der Hinzunahme von nicht-glyk­ämischen Messmethoden (z.B. Herzratenvariabilität, fotografische Analyse von Mahlzeiten), 
  • mit Mitteln der Künstlichen Intelligenz, welche die Insulinabgabe vollständig dem aktuellen Insulinbedarf anpasst, 
  • ggf. auch mit der Verbindung von Technologie und biologischen Lösungen (Inselzellen). 

Erste Studien zu zukünftigen Technologien werden bereits durchgeführt. 

Die vorgestellten Schwerpunktthemen der Diabetestechnologie orientieren sich mittlerweile an realen Fortschritten, die in Industrienationen bereits Alltag in der Therapie sind. 

Weiterentwicklung minimal-invasiver CGM-Systeme 

Auch die bekannten und längst in den Markt eingeführten CGM-Systeme erfahren eine Weiterentwicklung. Bei Firmen wie Dexcom, Abbott oder Medtronic geht es dabei neben der Verbesserung der Messgenauigkeit ihrer Sensoren und des Designs auch um die Verringerung der Größe von Sensoren, Transmitter usw. sowie deren leichtere Handhabung. 

Seit diesem Frühjahr besitzt das CGM-System Dexcom G7 die CE-Kennzeichnung. Der Sensor lässt sich zehn Tage lang tragen, muss nicht (kann aber) kalibriert werden und benötigt nach dem Setzen nur 30 Minuten Einlaufzeit. Auf dem Industriesymposium der Firma Dexcom präsentierte Lori Laffel die Ergebnisse einer prospektiven, multizentrischen, einarmigen Sicherheits- und Genauigkeitsstudie bei Kindern mit Typ-1-Diabetes im Alter von 2–17 Jahren (n = 164 Kinder mit insgesamt 240 Sensoren). 132 Kinder im Alter von 7–17 Jahren und 32 Kinder im Alter von 2–6 Jahren trugen den Dexcom G7 jeweils am Arm bzw. am Abdomen. 

Um Blutglukosemessungen mit dem Laborgerät YSI durchzuführen, nahmen die Teilnehmenden entweder an zwei Klinikbesuchen (13–17 Jahre alt) oder einem Klinikbesuch (7–12 Jahre alt) teil. Die MARD-Werte wurden durch den Vergleich von CGM- und YSI-Glukosemessungen für insgesamt 15.437 übereinstimmende Datenpaare berechnet. Dabei ergab sich eine MARD von 8,3 % am Arm und von 9,3 % am Abdomen. 90 % der Glukosewerte befanden sich im Toleranzbereich von ±15 mg/dl bzw. ±15 %, 95 % im Bereich von ±20 mg/dl bzw. ±20 %, wenn der Sensor am Oberarm saß. 

Neue Partnerschaften sind bereits vereinbart

Beim Abdomen waren die Abweichungen etwas größer: 86 % im Toleranzbereich von ±15 mg/dl bzw. ±15 %, 93 % im Bereich von ±20 mg/dl bzw. ±20 %. Diese hohe Messgenauigkeit wird vermutlich die Zulassung des Dexcom G7 als iCGM ermöglichen.

Zu den noch relativ neuen Entwicklungen zählt auch das rtCGM-System FreeStyle Libre 3 der Firma Abbott, welches in Deutschland verfügbar ist. Neue Studien zur Genauigkeit des Systems wurden auf dem Symposium von Abbott dargestellt (Emma G. Wilmot; Industriesymposium Abbott; 29.04.22). In einer in den USA an vier Zentren durchgeführten Studie zur Genauigkeit der Messung wurden 100 Teilnehmende mit Typ-1- und Typ-2-Diabetes eingeschlossen. Davon waren fünf Personen jünger als 6 Jahre, 39 zwischen 6–17 Jahre und 56 Personen mindestens 18 Jahre alt. Bei den 95 Teilnehmenden unter 6 Jahren wurde die Blutglukose venös bei drei separaten Besuchen in der Klinik mit dem YSI 2300 STAT Plus bestimmt. Für die fünf Teilnehmenden unter 6 Jahren wurde ein Blutglukosemessgerät verwendet (gemäß der Präferenz der FDA). Für die 6.845 gepaarten Messwerte ergab sich eine MARD von 7,8 %. 93 % der Werte lagen im Genauigkeitsbereich von ±20 mg/dl bzw. 20 %. Diese Daten sind vergleichbar mit dem Dexcom G7. Abbott strebt an, dieses System auch in AID-Systeme zu integrieren. Entsprechende Partnerschaften mit Ypsomed, deren Insulinpumpe mithilfe des CamAPS FX-Algorithmus zum myLife CamAPS FX AID-System aufgerüstet wird, sind vereinbart. 

Klinische Studien mit CGM-Systemen

Interessant ist die Verbreitung von CGM-Systemen in Ländern mit einem entwickelten Gesundheitssystem wie in Deutschland. Lousia van den Boom et al. (Abstract OP029) zeigten in einer virtuellen Präsentation Daten aus der auf der Diabetes-Patienten-Verlaufsdokumentation (DPV) basierenden DPV-Wiss-Datei. Diese wurden in Deutschland, Österreich, der Schweiz und Luxemburg zum Einsatz von CGM, Pumpentherapie (CSII), sensorunterstützter Pumpentherapie (SuP) und AID-Systemen generiert. Analysiert wurden SuP und AID, also der Einsatz von CGM im Zusammenspiel mit Insulinpumpen, im Zeitraum zwischen Januar 2018 und Juni 2021. 

Die Analyse von insgesamt 43.835 Personen mit Typ-1-Diabetes aus 416 Diabetes-Zentren erfolgte in Abhängigkeit von Alter, Geschlecht und Region. Bei Betrachtung der Daten zeigt sich, dass der Anteil von Patienten mit SuP und AID umso höher ist, desto jünger die Patienten sind. Für die Gruppen A (< 6 Jahre), B (6–11 Jahre), C (11–15 Jahre), D (> 15–25 Jahre) ergab sich für die SuP: 44 % (A), 37 % (B), 33 % (C) und 29 % (D), für AID wurde analysiert: 18 % (A), 13 % (B), 9 % (C) und 8 % (D). 

Auffällig war, dass die Nutzung von AID in den Altersgruppen A, B und C von 2018 bis 2020 zunahm, 2021 dagegen wieder abfiel. So verwendeten in Gruppe A 2018 12 % ein AID-System. Dieser Wert steigerte sich 2019 auf 17 % und 2020 auf 24 %, fiel in 2021 aber wieder auf 18 % zurück. Dies hat vermutlich etwas mit nicht erfüllten Erwartungen zu tun, auch was die Vereinfachung des Therapiemanagements betrifft. Denn bis dato lässt sich mit den verfügbaren AID-Sytemen nur die basale Insulinzufuhr automatisch regulieren. Mit der Weiterentwicklung der AID-Systeme wird sich das sicher deutlich ändern. 

Bemerkenswert war weiterhin, dass ein signifikanter Unterschied in der Anwendung der SuP zwischen weiblichen und männlichen Jugendlichen und jungen Erwachsenen nachgewiesen werden konnte. So wendeten in Altersgruppe C 56 % der Mädchen eine CSII und 36 % eine SuP an, während von den Jungen nur 47 % eine CSII und 29 % eine SuP durchführten. In beiden Fällen war der Unterschied mit p < 0,001 signifikant. In Gruppe D nutzten 53 % der weiblichen Personen eine CSII, 31 % eine SuP und 69 % CGM. 

Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen

Dagegen waren es bei den männlichen Patienten 41 % mit CSII, 23 % mit SuP und 65 % mit CGM (alle Unterschiede waren signifikant; p < 0,001). Über die geringere Zahl männlicher Personen dieser Altersgruppen mit Diabetestechnologie mag man spekulieren. Möglicherweise möchten sie sich nicht so gern durch sichtbares Diabetes-Equipment als Mensch mit Diabetes „outen“, während Mädchen und junge Frauen sich eher auf eine Therapieform einlassen, die bessere Ergebnisse verspricht. 

Studien mit CGM bei Menschen mit Diabetes, die keine Insulinpumpen anwenden, sind eher selten geworden. Das zeigt, dass CGM einen gewissen Behandlungsstandard in wohlhabenden Ländern darstellt. Aktuell nutzen weltweit ca. vier Millionen Menschen ein iscCGM-System (Freestyle Libre), 650.000 Menschen ein AID-System und damit auch ein CGM (420.000 Medtronic mit dem CGM Guardian G3 oder G4, 240.000 Tandem mit dem CGM Dexcom G6) und ca. weitere 400.000 ein Real-Time-CGM (Daten nach Kelly Close Reports 2022). In den Guidelines der American Association of Clinical Endocrinology (AACE) wird mittlerweile verstärkt auch auf die Anwendung von CGM-Systemen bei Menschen mit Typ-2-Diabetes verwiesen, wofür aktuell die Evidenz noch nicht allzu hoch ist. 

Isabella Crisci et al. untersuchten in einer retrospektiven Längsschnittstudie den Einsatz von iscCGM bei 204 älteren Menschen (129 Männer und 75 Frauen, Alter: 70,4 ±3,5 Jahre; bekannte Diabetesdauer 18,2 ±4,3 Jahre) mit Typ-2-Diabetes (Abstract EP292). Sie hatten das iscCGM über einen Zeitraum von 2,0 ±0,5 Jahre benutzt. Die Daten zeigten, dass die Anwendung des iscCGM die Blutglukoseeinstellung verbessert (Baseline-HbA1c: 8,9 ±0,9 %, unter iscCGM: 7,5 ±1,4 %; p < 0,0001). Das betraf sowohl die Altersgruppe von 65–74 Jahren als auch darüber. Hypoglykämien oder Ketoazidosen waren nicht zu verzeichnen. 

Die Daten zeigen, dass die Verwendung von iscCGM auch bei älteren insulinbehandelten Menschen mit Typ-2-Diabetes ein Ansatz ist, der hilft, deren Diabetes erfolgreich zu managen. 

Zusammenfassung

Beim 15. ATTD lag der Schwerpunkt eindeutig auf der fortgeschrittenen Anwendung von Insulinpumpen und CGM-Systemen: den AID-Systemen. Hier hat seit der Einführung des ersten Hybrid-AID-Systems 2016 in den USA eine stürmische Entwicklung stattgefunden. Nichtsdestotrotz ist die Entwicklung eines immanenten Bestandteils von AID-Systemen, den Glukosesensoren, noch nicht abgeschlossen. Hierzu zählen auch die noch nicht umgesetzten Möglichkeiten der nicht-invasiven Glukosemessung.

Quelle: ATTD 2022

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