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Von Neuromyelitis-Optica-Spectrum-Erkrankung bis Sarkoidose
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Für die Differenzialdiagnostik chronisch-entzündlicher Erkrankungen des ZNS braucht es eine durchdachte Strategie. Darauf wies Privatdozent Dr. Benjamin Knier, Klinikum rechts der Isar, München, hin. Er präsentierte vier aktuelle Kasuistiken aus seiner eigenen Klinik und ging dabei auf mögliche Symptomkonstellationen und Fußangeln ein.
1. Typische Frühsymptome
Der erste Fall der Münchner Kollegen stellt sich noch unkompliziert dar: Eine junge Frau stellt sich mit den Erstsymptomen Schleiersehen und Visusminderung in der Neurologie vor. Leitliniengerecht erfolgen kraniale und spinale MRT, Liquoranalyse sowie Lues- und Borrelienserologie. Weiterführende Tests bei Verdacht auf Optikusneuritis und/oder MS sind nur indiziert, wenn „Red Flags“ wie Erkrankungsbeginn im höheren Alter, schlagartig einsetzende Symptome, Kopfschmerzen oder Krampfanfälle auf eine andere Diagnose hindeuten, erklärte Dr. Knier. MRT- und Liquorbefunde bestätigten bei der Patientin die Verdachtsdiagnose MS.
2. Aufsteigende Hypästhesie
Eine komplexere Symptomatik zeigte eine 34 Jahre alte Frau. Seit vier Wochen bestand eine Hypästhesie der Beine, die sich langsam nach proximal ausbreitete. Sie berichtete über ein Schleiersehen vor fünf Jahren, das sich aber binnen zwei Wochen gegeben habe. Aktuell auffällig war das Reflexmuster: An den unteren Extremitäten imponierten die Reflexe deutlich lebhafter als an den oberen, das Babinski-Zeichen war beidseits positiv. Außerdem zeigten sich eine Ataxie im Knie-Fersen-Versuch, eine sensible Gangataxie sowie ein positiver Romberg-Test. Die MRT zeigte langstreckige Myelonläsionen – im Bereich der HWS über sechs, an der BWS über vier Wirbelkörper sowie einige kleinere Läsionen im Bereich des Balkens. Das Labor ergab eine ausgeprägte Liquorpleozytose (154 Zellen/µl), einen auf 15 × 10−3 erhöhten Albuminquotienten (QAlb) als Ausdruck der Schrankenstörung sowie polyklonale Banden in Serum und Liquor. Passend zu den übrigen Befunden befanden sich im Serum hochtitrige Aquaporin-4-Antikörper, was die Diagnose der AQP4-positiven Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankung sicherte.
In diesem Fall muss die Therapie per Steroidstoß umgehend beginnen, betonte Dr. Knier. Eine Verzögerung um nur wenige Tage könne das Ansprechen bereits beeinträchtigen.
Bei AQP4-positiven Patientinnen – neun von zehn NMOSD-Betroffene sind Frauen – bringt der Steroidstoß allerdings meist nicht viel. Bei unzureichender Wirkung sollte spätestens nach drei bis fünf Tagen eine Apherese (Plasmapherese oder Immunadsorption) durchgeführt werden. War Kortison bereits bei einem vorherigen Schub wirkungslos, könne man auch primär mit der Apherese starten, so der Münchner Kollege.
Nach der Schubtherapie gibt es verschiedene Optionen, je nach AQP4-Status. Rituxumab funktioniert unabhängig von den Antikörpern, sein Einsatz in dieser Indikation ist aber off label. Für AQP4-positive Patienten gibt es inzwischen drei zugelassene Medikamente, zwei davon ab dem ersten Schub (der Anti-IL-6-Rezeptor-Antikörper Satralizumab sowie das B- und Plasmazell-depletierende Inebilizumab). Beide sind jedoch noch nicht in die Leitlinie aufgenommen. „Wir hoffen, dass die Leitlinie zeitnah angepasst wird“, sagte Dr. Knier.
3. Rasch progrediente Tetraparese
Als drittes Beispiel diente eine 63-jährige Patientin, die an einer seit dem Vortag bestehenden progredienten Schwäche der unteren Extremitäten mit schmerzhaften Parästhesien litt. Seit dem Morgen fühlten sich die Beine taub an, außerdem schilderte die Patientin Probleme beim Wasserlassen mit Pollakisurie. Die neurologische Untersuchung sprach für motorische und sensible Defizite, an den Beinen stärker als an den Armen, und einen Reflexsprung zwischen oberer und unterer Extremität. Noch in der Notaufnahme erfolgte eine Lumbalpunktion, die 128 Zellen/µl (v.a. Lympho- und Monozyten) und eine massive Schrankenstörung (QAlb 48,5 × 10−3) ergab. Die MRT zeigte eine extensive Myelitis, die den gesamten Querschnitt des Myelons einnahm, sich von C1 bis S1 erstreckte und auch Hirnstamm und Pons erfasst hatte.
Die rasch fortschreitende Tetraparese und Schocksymptomatik mit Tachykardie, Hypotonie und Dyspnoe erzwangen die Intubation und die Gabe von Katecholaminen zur Kreislaufunterstützung. Unter dem Verdacht einer fulminanten Infektion begannen die Kollegen außerdem eine antiinfektive Dreifachtherapie mit Antibiotika und Aciclovir. Das Labor inklusive Erregerdiagnostik und Antikörpertests blieb jedoch zunächst negativ.
Aufgrund des Alters der Patientin und der B-Symptomatik in der Anamnese (unbeabsichtigter Gewichtsverlust > 5 % in sechs Monaten) erfolgten weitere Tests. Schließlich fand man hochtitrig antineuronale IgG-Antikörper gegen Amphiphysin im Liquor, was zur Diagnose einer paraneoplastischen Enzephalomyelitis führte. „Anti-Amphiphysin-Antikörper kennt man vom Stiff-Person-Syndrom, sie kommen aber auch bei Tumorerkrankungen vor, vor allem bei Brustkrebs oder kleinzelligem Bronchialkarzinom“, erklärte Dr. Knier. Amphiphysin ist sowohl Oberflächen- als auch intrazelluläres Antigen, weil es mehrere Transmembrandomänen aufweist und Antikörper sich gegen externe wie interne Teile richten können. Die Unterscheidung ist wichtig für die Therapie: Bei Antikörpern gegen intraneuronale Proteine wird sie neben der Krebsbehandlung in einer T-Zell-Suppression bestehen. Bei Antikörpern gegen extraneuronale Proteine stehen intravenöse Immunglobuline und Plasmapherese im Vordergrund, falls das nicht anschlägt auch die Immunsuppression mit Rituximab oder Cyclophosphamid. Die Patientin erhielt acht Plasmapheresesitzungen und anschließend eine Induktionstherapie mit Rituximab. Hirnstamm- und Ponssymptome besserten sich, die Tetraparese jedoch nicht. Die Patientin wurde schließlich aus der stationären Erstbehandlung entlassen. Nach dem Tumor wird weiter gesucht.
4. Kopfschmerzen und Hirnnervenausfälle
Patientin Nr. 4, eine 37-Jährige, litt seit drei Wochen an immer stärkeren, dumpfen Kopfschmerzen, die sich unter NSAR nicht besserten. Fünf Tage, bevor sie sich in der Klinik vorstellte, waren zunehmende Übelkeit und Erbrechen dazugekommen, seit dem Vortag Doppelbilder beim Blick nach rechts und ein hängender Mundwinkel links. Bei der klinisch-neurologischen Untersuchung fielen Stauungspapillen, Abducensparese rechts und Fazialisparese links auf. Der übrige Status war unauffällig.
Der Verdacht auf einen raumfordernden Prozess lag nahe, deshalb kam die Patientin unverzüglich ins MRT. Es zeigte sich eine leptomeningeale T1-Hyperintensität, die den Hirnstamm „wie Zuckerguss“ überzog, was an eine Meningeosis carcinomatosa denken ließ. Im Liquor ließen sich eine Pleozytose (209/µl), aber keine malignen Zellen nachweisen. Der QAlb lag bei 28 × 10-3. Es gab eine intrathekale IgA-Synthese und oligoklonale Banden. Die Meningeosis war damit vom Tisch. Unter der Arbeitshypothese einer Meningitis begannen die Kollegen eine antibakterielle und antivirale Therapie. Allerdings fanden sich im Liquor weder Viren noch Bakterien, auch die Antikörpertests blieben negativ. Dafür war ACE im Liquor erhöht, ebenso der lösliche IL-2-Rezeptor – mögliches Zeichen einer Neurosarkoidose.
Das zentrale und/oder periphere Nervensystem ist bei Sarkoidose eher selten beteiligt. Falls doch, kommt es zu ebenso bunten wie unspezifischen Symptomen. Hirnnervenausfälle und Optikusneuritis kommen vor, seltener auch neuroendokrine Defizite. Diagnostisch „machen Sie alles, was geht“, sagte Dr. Knier. „Ich empfehle, immer zu biopsieren, weil nur das die Diagnose sichert und Sie sonst vielleicht ohne Not jahrelang immunsuppressiv therapieren.“ Die Therapie beginnt mit einem Steroidstoß (1 g/d Methylprednisolon über fünf Tage), dann schleicht man das Kortison langsam über Monate aus unter steroidsparender Medikation mit MTX, Azathioprin oder einem TNF-α-Blocker. Die Prognose ist oft gut, bei zwei von drei Patienten bleibt es bei einem Schub. Chronische Verläufe ereignen sich bei Läsionen im ZNS-Parenchym, Hydrozephalus oder multiplen Hirnnervenparesen und gehen mit einer schlechten Prognose einher.
Kongressbericht: Neurowoche 2022
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