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Wenn es an Neutrophilen mangelt

Sinkt die Anzahl der Neutrophilen im Differenzialblutbild unter 1.500/μl, spricht man von einer Neutropenie, die je nach Ausmaß in verschiedene Formen eingeteilt wird (s. Kasten). Häufigste Ursache sind Infektionen durch Bakterien, Viren oder Pilze. Meist dauert die postinfektiöse Neutropenie nur kurz an und selten führt sie zu bakteriellen Superinfektionen. Protrahierte Formen gibt es allerdings auch, und zwar vor allem bei Infektionen mit HBV, EBV oder HIV, schreiben Prof. Dr. Gabriela Baerlocher vom Inselspital in Bern und Prof. Dr. Manfred Essig, Spital Tiefenau, Bern.
Schweregrade der Neutropenie
Die absolute Neutrophilenzahl (ANC) ergibt sich aus der Summe der stab- und segmentkernigen neutrophilen Granulozyten im Differenzialblutbild. Vorstufen und pathologische Formen werden nicht mitgezählt. Beim Erwachsenen liegt eine Neutropenie vor, wenn die Anzahl < 1.500/μl (< 1,5 × 109/l) beträgt. Zu beachten ist dabei, dass manche ethnische Gruppen niedrigere Leukozyten- und Neutrophilenwerte aufweisen (z.B. jemenitische Juden, Äthiopier, Afroamerikaner). Es werden folgende Formen unterschieden:
- 1.000 bis 1.500 Zellen/μl (ANC 1,0–1,5 × 109/l): milde Neutropenie
- 500 bis 1.000 Zellen/μl (ANC 0,5–1,0 × 109/l): moderate Neutropenie
- < 500 Zellen/μl (ANC < 0,5 × 109/l): schwere Neutropenie
- < 200 Zellen/μl (ANC < 0,2 × 109/l): Agranulozytose
Medikamenteninduzierte Neutropenien sind die zweithäufigste Gruppe. Zytotoxische Wirkstoffe reduzieren die Neutrophilenzahl durch Hemmung der Myelopoese. Andere Medikamente führen zu immunologischen oder toxischen Reaktionen, die etwa vier Wochen nach Beginn der Medikation auftreten. Dazu gehören z.B. Metamizol, Sulfasalazin, Cloxapin, Ticlopidin, Penicillin und Dapson. Für diese Art von erworbenen Neutropenien sind vor allem ältere Menschen anfällig.
Auch ein Mangel an Vitamin B12, Folsäure oder Kupfer kann zu Neutropenie und Panzytopenie führen. Seltener sind Immunerkrankungen, die die Neutrophilenzahl durch antineutrophile Antikörper senken, und angeborene Defekte wie bei der kongenitalen Neutropenie oder Stoffwechselstörungen. Zu den eher häufigen Ursachen zählen Erkrankungen, die die gesamte Blutbildung betreffen, z.B. das myelodysplastische Syndrom und Leukämien.
Bemerkbar machen sich schwere Neutropenien vor allem durch wiederkehrende Infekte. Diese bevorzugen die Mundhöhle, die Haut oder den perirektalen und genitalen Bereich. Klassische Entzündungszeichen wie Schwellung, Rötung und Überwärmung fehlen häufig. Gelangen die Erreger ins Blut, werden oft Lunge oder Gastrointestinaltrakt infiziert. Bei Fieber und schwerer Neutropenie ist in der Regel von einer Infektion auszugehen.
Egal welche Ursache – bei einer Neutropenie muss immer das Infektionsrisiko eingeschätzt werden. Unter Chemotherapie geht man generell davon aus, dass dieses erhöht ist. Schwieriger wird es bei anders bedingten Neutropenien. Als klar erhöht gilt das Infektionsrisiko bei Zellzahlen < 500/μl und ungenügender Neutrophilenreserve oder zusätzlichen Immundefizienzen.
Oraler Status gibt Auskunft über Neutrophilenreserve
Liegt die zur Beurteilung der Neutrophilenreserve nötige Knochenmarkuntersuchung nicht vor, kann das Infektionsrisiko anhand klinischer Zeichen abgeschätzt werden. Für eine adäquate Neutrophilenreserve sprechen Abszesse oder purulentes Material. Ulzerationen der Mundschleimhaut, Karies und schwere Gingivitis sind dagegen eher Hinweise auf eine schlechte Neutrophilenreaktion. Auch die Splenomegalie als Zeichen für eine chronische Entzündung oder eine hämatologische Erkrankung ist oft mit einer eingeschränkten Neutrophilenreaktion assoziiert.
Patienten mit erhöhtem Infektionsrisiko müssen unbedingt eine gute Hand-, Mund- und Zahnhygiene einhalten. Ihr Impfstatus ist regelmäßig zu prüfen und ggf. aufzufrischen. Bei Fieber müssen nach Abnahme von Material für Kulturen rasch Antibiotika verabreicht werden. Vor allem bei Zellzahlen < 500/μl, rezidivierenden Ulzerationen oder schweren Infekten ist die Gabe eines myeloiden Wachstumsfaktors wie Filgrastim (G-CSF) zu erwägen. Patienten mit > 1.000 Neutrophilen/μl können ambulant behandelt werden, bei Werten < 500/μl und ungenügender Neutrophilenreserve ist eine stationäre Einweisung erforderlich. Liegen die Neutrophilen zwischen 500 und 1.000/μl, ist die Lage individuell zu beurteilen.
Quelle: Baerlocher GM, Essig M. Swiss Med Forum 2022; 22: 138-143; DOI: 10.4414/smf.2022.08922
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