Die ersten digitalen Produkte dürfen aufs Kassenrezept
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Bevor ein Arzt oder Psychotherapeut eine vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) zugelassene digitale Gesundheitsanwendung (DiGA) verordnet, muss er sich mit dieser vertraut machen und den Patienten ausreichend aufklären und motivieren. Das ist eine nicht zu unterschätzende Hürde. Auch Krankenkassenvertreter erwarten, dass es Jahre dauern wird, bis sich diese neue digitale Versorgungsoption in der Breite durchsetzen wird. Für den Bundesgesundheitsminister ist jetzt aber erst einmal die Botschaft wichtig: „Deutschland ist das erste Land, in dem es Apps auf Rezept gibt.“
Patienten wollen bei Ärzten nachfragen
42 % der Ärzteschaft stehen der Verordnung von DiGA positiv und 48 % zumindest teilweise offen gegenüber. Allerdings fühlen sich 56 % für die Beratung zu Apps schlecht gewappnet. Das hat die Barmer bei einer Umfrage unter 1000 Ärztinnen und Ärzten von März bis Mai 2020 herausgefunden.
Auch der IT-Branchenverband Bitkom zitiert von ihm beauftragte, repräsentative Befragungen. Danach verwenden bereits jetzt drei Viertel der hiesigen Smartphone-Nutzer frei verfügbare Fitness-, Ernährungs- oder Health-Apps. 59 % könnten sich gut vorstellten, eine DiGA zu nutzen. Von den über 65-Jährigen sage das fast jeder Zweite. „Vier von zehn Patienten wollen ihren Arzt sogar aktiv nach einer App auf Rezept fragen“, so Bitkom.
Bei den beiden ersten DiGA im BfArM-Verzeichnis handelt es sich um die App „kalmeda“ bei chronischer Tinnitusbelastung (H93.1) und um die Webanwendung „velibra“ für Indikationen wie Panikstörung (F41.0), soziale Phobien (F40.1) und generalisierte Angststörung (F41.1). Die App wurde vorläufig zugelassen, für sie muss noch ein positiver Versorgungseffekt nachgewiesen werden. Das webbasierte Programm wurde dauerhaft gelistet. Weitere Produkte werden bald folgen. Das machen die Herstelleranträge und -anfragen beim BfArM sowie die „Innovations“-Rufe von Industrievertretern deutlich. Das Fast-Track-Verfahren der Behörde sieht eine Entscheidung innerhalb von drei Monaten vor.
Für die praktische Umsetzung der App-Versorgung in den Praxen und durch die Krankenkassen gibt es erste Hinweise.
Wie wird verordnet?
Auf dem üblichen Arzneirezept (Muster 16) mit Angabe der Anwendungsdauer, z.B. für 90 Tage. Eine DiGA hat sowohl eine Verzeichnis- als auch eine Pharmazentralnummer (PZN). Im DiGA-Verzeichnis des BfArM – und mit etwas Zeitverzögerung auch in der Praxissoftware – finden sich die Details. So gibt das BfArM u.a. eine Mindest- und Höchstdauer für den Einsatz an. Im Fall der Tinnitus-App heißt es: „Die App soll max. vier Mal durch einen HNO-Arzt verordnet werden, sodass die optimale Therapiedauer zur Anwendung kommt.“ Neigt sich der verordnete und freigeschaltete Nutzungszeitraum dem Ende zu, sollen Patient und Arzt bzw. Psychotherapeut gemeinsam entscheiden, ob die DiGA den gewünschten positiven Effekt erbracht hat und ob eine Fortsetzung sinnvoll erscheint.Wie wird abgerechnet?
Für die Auswahl und die Verordnung einer DiGA gibt es keine zusätzliche Vergütung. Allerdings sind ärztliche Leistungen, die zur Erprobung und zur Nutzung einer DiGA notwendig sind, zu honorieren. Sind diese Tätigkeiten noch nicht im EBM abgebildet, haben der Bewertungsausschuss bzw. KBV und GKV-Spitzenverband die Abrechnungsmöglichkeiten im EBM (bei dauerhafter DiGA-Zulassung) oder im Bundesmantelvertrag (bei vorübergehender Zulassung) zu schaffen. Nochmals das Beispiel der Tinnitus-DiGA. Hier schreibt das BfArM: „Vor Nutzung der App sollte eine HNO-ärztliche Untersuchung und insbesondere ein Hörtest stattgefunden haben.“ Als „mögliche vertragsärztliche Tätigkeiten in Zusammenhang mit der DiGA“ werden die EBM-Nrn. 09320, 09323, 09343 sowie ggf. 09324 und 09326 genannt.Was kostet eine DiGA?
In App-Stores kostet ein Gesundheits-Tool vielleicht 4,99 Euro. Mit solchen Preisen ist bei einer zertifzierten DiGA kaum zu rechnen, heißt es vonseiten des Bundesverbandes Medizintechnologie. Insbesondere wenn mit der Einführung eine Untersuchung zum Nachweis eines positiven Versorgungseffekts verbunden ist, könnten die Kosten deutlich höher ausfallen. Die beiden ersten vom BfArM gelisteten Anwendungen kosten je Verordnungseinheit 117 bzw. 476 Euro. Zuzahlen müssen die Patienten nichts. Stefanie Stoff-Ahnis, Vorstand beim GKV-Spitzenverband, moniert die gesetzlichen Finanzierungsregelungen. „Sobald das Bundesinstitut eine neue digitale Gesundheitsanwendung in das Verzeichnis aufgenommen hat, müssen die Krankenkassen ein Jahr lang jeden beliebigen Preis zahlen, den sich der Hersteller ausgedacht hat. Erst nach einem Jahr gilt dann das Ergebnis der Preisverhandlung, die der Hersteller mit dem GKV-Spitzenverband führen wird. Hier sehe ich die große Gefahr, dass aus den Portemonnaies der Beitragszahler ein Jahr lang mehr bezahlt werden muss, als eine neue App tatsächlich wert ist.“Wie bekommt der Patient die DiGA?
Er reicht die Verordnung bei seiner gesetzlichen Krankenkasse ein. Diese sendet ihm einen Freischaltcode und Hinweise zu, unter welchem Link die DiGA heruntergeladen werden kann.Geht es auch ohne Rezept?
Ja. Ein Versicherter kann bei seiner Krankenkasse einen Antrag auf Kostenübernahme für eine DiGA stellen. Er muss z.B. anhand von Behandlungsunterlagen die entsprechende Indikation nachweisen. „Eine ärztliche Bescheinigung ist dafür nicht vorgesehen“, teilt die KBV mit. In einem vom KBV-Vorstand und den Vorsitzenden der KV Bayerns eingebrachten und von der KBV-Vertreterversammlung verabschiedeten Beschluss vom 11. September 2020 heißt es: „Die Ärzteschaft macht darauf aufmerksam, dass für Ärzte und Psychotherapeuten keine Pflicht besteht, digitale Gesundheitsanwendungen gemäß § 33a SGB V zu verordnen. Patienten, die digitale Gesundheitsanwendungen erhalten wollen, können an ihre Krankenkasse verwiesen werden.“ Als Begründung wird angeführt, die vom BfArM zugelassenen DiGA gehörten „nicht zum allgemein anerkannten Standard einer ärztlichen oder psychotherapeutischen Behandlung“.Welche Risiken bestehen?
„Die Patienten dürfen nicht zu ‚Versuchskaninchen‘ der IT-Industrie und der App-Programmierer gemacht werden“, warnt der Vorstand der KV Bayerns. Es sei „noch weitgehend ungeklärt, wer das Haftungsrisiko trägt, falls die eingesetzte App beispielsweise nicht die korrekten oder auch widersprüchliche Daten liefert“. Der Hamburger Rechtsanwalt Sebastian Vorberg wendet sich in einem offenen Brief gegen diese Aussagen. Mit dem Digitale-Versorgung-Gesetz seien Datenschutz, Qualität und Evidenz der DiGA gesetzlich sichergestellt worden. Die Prüfung der Produktqualität liege nicht in der Verantwortung der Ärzte, sondern in der des BfArM. Ein Arzt sei verpflichtet, die neuen Leistungen für die Versorgung in Betracht zu ziehen und ihre Wirtschaftlichkeit zu prüfen. Medizinprodukte geringer Risikoklasse mit ausgewiesenem positivem Versorgungseffekt könnten ja kostengünstiger sein als herkömmliche Methoden. Leitlinien lieferten einem Arzt nur Anhaltspunkte für die Behandlung, es bleibe ihm Spielraum. Nach Angaben der Bundesregierung ist der Datenschutz bei DiGA umfassend geregelt. Die Bestimmungen begrenzten die Datenverarbeitung auf unmittelbar versorgungsrelevante Zwecke, verböten ein umfassendes Nutzertracking zu Werbezwecken und unterbänden die Weitergabe von Daten an Dritte, heißt es in einer Antwort (Bundestags-Drucksache 19/22922) auf eine Kleine Anfrage der FDP-Fraktion. Zumindest die ersten DiGA fallen auch nicht vom Himmel. Hinter der Tinnitus-App steckt ein Unternehmen, an dem ein HNO-Arzt und ein Psychologe beteiligt sind, sowie das Pharmaunternehmen Pohl-Boskamp. Seit Anfang 2019 wurde die Anwendung bereits per Selektivvertrag von der Krankenkasse BIG direkt gesund erstattet. Zu ihr wie auch zum webbasierten Programm velibra, an dessen Entwicklung das Institut für Psychologie der Universität Bern beteiligt war, listet das BfArM Literatur und Studienhinweise auf. Welche anderen Player sich um eine Zulassung ihrer Produkte bemühen, lässt sich z.B. auf der Website des jungen Spitzenverbandes Digitale Gesundheitsversorgung nachlesen.Medical-Tribune-Bericht