Bundessozialgericht TI-Honorarabzüge bestätigt – der Verlust trifft einige
Auf dieses Urteil hatten manche ihre Hoffnung gesetzt. Mehrere Praxen hatten in den vergangenen Jahren gegen den Honorarabzug bei Nichtanschluss an die Telematikinfrastruktur (TI) geklagt – immer hatten die Gerichte abschlägig entschieden.
Jetzt hat das Bundessozialgericht (BSG) über das Anliegen einer Praxis aus Mainz geurteilt – allerdings genauso wenig zur Zufriedenheit der vielen Ärztinnen und Ärzte, denen seit 2019 in diesem Zusammenhang Honorar abgezogen worden war.
Der vor dem BSG klagenden gynäkologischen Berufsausübungsgemeinschaft (BAG) war von der KV Rheinland-Pfalz das Honorar um 1 % gekürzt worden, weil die Praxis der zum ersten Quartal 2019 eingesetzten gesetzlichen Verpflichtung zur Anbindung an die TI und zur Durchführung des Versichertenstammdatenabgleichs nicht nachgekommen war. Die Praxis widersprach der Kürzung. Erfolglos.
Auch vor dem Sozialgericht unterlag die BAG. Der Honorarbescheid sei rechtmäßig, so das Gericht. Die Verpflichtung zum TI-Anschluss und die daraus entstehende Honorarkürzung stehen mit der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) in Einklang. Folglich bestünden für die Verarbeitung der personenbezogenen Daten beim Abgleich der elektronischen Gesundheitskarte für den Versichertenstammdatenabgleich ausreichend Ermächtigungsgrundlagen. Ein Verstoß gegen die Datensicherheit liege auch nicht vor und es sei auch keine explizite Festlegung der datenschutzrechtlichen Verantwortlichkeiten durch den Gesetzgeber erforderlich gewesen, wie die klagende Praxis argumentiert hatte.
Gegen das Urteil des Mainzer Sozialgerichtes wurde eine Sprungrevision zugelassen. Eine neue Beweisaufnahme wird dann nicht durchgeführt, das Bundessozialgericht prüft auf rechtliche Fehler.
Denn die gynäkologische Praxis argumentierte, die Anbindungspflicht an die TI stelle zumindest in der anfangs geltenden Ausgestaltung einen unverhältnismäßigen Eingriff in ihre ärztliche Berufsfreiheit dar. Wäre sie der Vorgabe gefolgt, hätte das mehrfache Verstöße gegen die DSGVO begründet. Erst mit dem im Oktober 2020 in Kraft getretenen Patientendaten-Schutz-Gesetz hätten die gesetzlichen Regelungen der Datensicherheit entsprochen.
Doch dem folgte das BSG nicht: Auch in der anfänglichen rechtlichen Situation habe die Verpflichtung zur Anbindung an die TI keinen unverhältnismäßigen Eingriff in die ärztliche Berufsfreiheit dargestellt. Denn bereits zu diesem Zeitpunkt habe die TI den Vorgaben des europäischen Datenschutzrechtes entsprochen. Es hätte keine systemischen Mängel gegeben, die die Leistungserbringer von der TI-Anbindung hätten freistellen können. Eine vorherige Datenschutz-Folgenabschätzung sei nicht erforderlich gewesen, die Verantwortlichkeit für die TI-Komponenten habe im Quartal 1/2019 bei den Vertragsärzten gelegen, so das BSG. Da außerdem die Verpflichtung zum Versichertenstammdatenabgleich dem legitimen Zweck diene, Leistungsmissbrauch durch ungültige, verlorene oder gestohlen gemeldete elektronische Gesundheitskarten zu verhindern, sei sie verhältnismäßig (siehe hierzu auch Kasten).
Ohne Schadensgröße keine Rechtfertigung
Im aktuellen Urteil des BSG ging es um die Anbindungspflicht im ersten Qartal 2019. Zu diesem Zeitpunkt spielte die Verpflichtung zum Versichertenstammdatenabgleich eine entscheidende Rolle. Juristisch wurde – wie auch zuvor schon an anderer Stelle – argumentiert, der verfolgte Zweck des Stammdatenabgleichs sei die Verhinderung von Missbrauch der elektronischen Gesundheitskarte (eGK). Es läge ja im Interesse aller Beteiligten, Leistungsmissbrauch durch ungültige, verlorene oder gestohlen gemeldete eGK im System der gesetzlichen Krankenversicherung zu reduzieren. Entsprechend seien die Eingriffe in z.B. das Grundrecht der ärztlichen Berufsfreiheit gerechtfertigt.
Dr. Andreas Meißner, niedergelassener Psychiater und Interessensvertreter der TI-Kritiker, stellt diese Argumentation infrage. Weder der GKV-Spitzenverband noch die großen Krankenkassen noch das Bundesgesundheitsministerium hätten auf Nachfrage Angaben zum finanziellen Umfang des Missbrauchs der eGK gemacht. Sicherlich gebe es einen Missbrauch, so Dr. Meißner. Aber so lange der Umfang des Problems unbekannt sei, stelle sich auch im Sinne des Wirtschaftlichkeitsgebots die Frage, ob sich dafür die Milliarden-Ausgaben für die TI bzw. die starken Eingriffe in die Berufsfreiheit rechtfertigen lassen.
Betroffen sind wohl deutlich mehr als 10 % der Praxen
Es sind nicht wenige der vertragsärztlichen Praxen bundesweit, für die das Urteil den endgültigen Abschied von vielen einbehaltenen Honoraren bedeutet. Dr. Karen von Mücke ist zum Beispiel eine der betroffenen Ärztinnen und Ärzte. Die hausärztliche Internistin aus München hatte über einige Quartale hinweg die Entscheidung getroffen, ihre Praxis nicht an die TI anzuschließen. Den Honorarabzug von anfangs 1 %, später 2,5 %, nahm sie dafür in Kauf.
Dann wurde ihr der Druck zu groß und sie beauftragte den Anschluss. Die großen technischen Anfangsschwierigkeiten, die ihre Praxis dabei hatte, verringerten sich mit der Zeit auf den durchschnittlichen Ärger, mit dem etliche Praxen bis heute noch kämpfen. Zu dem BSG-Urteil sagt die Hausärztin: „Meine Abzüge, die ich als frühere sogenannte TI-Verweigerin zahlen musste, sind jetzt endgültig verloren. Auch wenn das Gericht formal Recht hat, fühlt es sich für mich falsch an.“
Betroffen vom endgültigen Honorarverlust dürften deutlich mehr als 10 % der Vertragsarztpraxen sein – die einen mehr, die anderen weniger. Um eine Vorstellung zu bekommen: Noch Mitte 2021 waren z.B. zwischen 4 % und 5 % der Praxen in Hamburg, im Saarland und in Sachsen-Anhalt nicht angeschlossen und lebten folglich seit rund zehn Quartalen mit Honorarabzügen. In Hessen, Niedersachsen, Nordrhein, Westfalen-Lippe und Thüringen waren es zwischen 7 % und 9 % und in Baden-Württemberg, Bayern und Berlin sogar zwischen 10 % und 13 % gewesen. Die KV Baden-Württemberg gab damals an, dass sie jedes Quartal 1,5 Millionen Euro Honorare einbehalte. In Bayern behielt die KV „einen niedrigen zweistelligen Millionenbetrag“ der Honorare ein. In Rheinland-Pfalz, dem Bundesland, aus dem die Klage das BSG erreicht hatte, hatte die KV zu diesem Zeitpunkt 2.388.124 Euro einbehalten. Rund 8 % der Praxen (377 von 4.712) waren noch nicht angeschlossen und es lagen über 700 Widersprüche gegen die Honorarkürzung vor.
Inzwischen müsste nur noch bei rund 250, also ca. 5 % aller Praxen, je Quartal eine Honorarkürzung vorgenommen werden, teilt die KV mit. Die Kürzungssumme über den gesamten Zeitraum 2019 bis 2023 belaufe sich mittlerweile auf rund 4 Millionen Euro.
Als KV bleibe man aber auch nach diesem Urteil bei der Position, dass Sanktionen nicht der richtige Weg seien, um die Akzeptanz der Niedergelassenen für die notwendige Digitalisierung in der ambulanten Gesundheitsversorgung zu gewinnen, lautet das Statement der Körperschaft. „Vor dem Hintergrund der zahlreichen technischen Pannen bei der Einführung von telematischen Anwendungen wie dem eRezept führen Honorarsanktionen im Gegenteil dazu, das Vertrauen in digitale Prozesse zu verlieren“, äußert sich Vorstandsmitglied Peter Andreas Staub.
Dr. Norbert Smetak, Kardiologe und Vorsitzender von Medi Baden-Württemberg und Medi Geno Deutschland, sagte nach dem Urteil: „Medi ist über die heute ergangene Entscheidung enttäuscht.“ Die fachübergreifenden Ärzteverbände Medi Geno Deutschland, Medi Baden-Württemberg und Medi Südwest haben die bundesweiten Bemühungen der Ärzteschaft, sich gegen den Honorarabzug bei Nichtinstallation der TI und bei der Frage der Kostenerstattung zur Wehr zu setzen, unterstützt, erklärt der Verband.
Das Thema Kostenerstattung ist noch nicht vom Tisch
Es läge schließlich im allgemeinen Interesse, dass das Gesundheitssystem nicht durch technisch unsichere und im Betrieb teure IT-Systeme belastet wird. Zumal, wenn diese nicht das angestrebte Ziel einer Effizienzsteigerung bewirken.
In einem weiteren Verfahren aus Baden-Württemberg zur Frage der TI-Kostenerstattung hat sich der Kläger zur Rücknahme der Revision beim BSG entschieden. Ein Parallelverfahren, das am Sozialgericht Stuttgart anhängig ist, sei besser geeignet, die offenen Fragen zur Kostenerstattung der Erstausstattung wie auch der Betriebskosten der TI zu klären, so Medi.
Ein Gesichtspunkt, der auch Dr. von Mücke interessiert. Denn das Gericht habe bei seiner Entscheidung eben zwei wesentliche Aspekte im Sachverhalt gar nicht berücksichtigt: die mangelnde Funktionalität und die hohen Kosten der TI. „Wir brauchen digitale Tools, die funktionieren, den Alltag erleichtern und die Patientenversorgung verbessern, aber nicht solchen Murks. Statt die Ärzte zu bestrafen, sollten die verantwortlichen Akteure, Gematik, PVS-Firmen und Kartenhersteller, endlich in die Pflicht genommen werden.“
Medical-Tribune-Bericht