Schwindel Bei vestibulärer Migräne ist detektivischer Spürsinn gefragt
Ähnlich wie bei der klassischen Migräne sind von vestibulärer Migräne mehr Frauen als Männer betroffen. Der Altersgipfel liegt zwischen dem 30. und 40. Lebensjahr. Als Risikofaktoren gelten ein Alter unter 40 Jahren, weibliches Geschlecht, langjährige Migräne sowie Depressionen, Angsterkrankungen oder Kopftraumata in der Vorgeschichte.
Durchschnittlich dauert es mehr als acht Jahre, bis nach einer ersten Migräneattacke die Diagnose vestibuläre Migräne steht. Eine Studie hat gezeigt, dass nur 2 % der Patienten mit Schwindel und Verdacht auf vestibuläre Migräne an ein Schwindelzentrum überwiesen wurden. Bei jeder Fünften dieser Personen hat man die Beschwerden letztlich korrekt der vestibulären Migräne zugeordnet, berichtet Prof. Dr. Holger Rambold, Klinik und Poliklinik für Neurologie am Innklinikum Altötting und Mühldorf.
Der Schwindel kann in Stärke, Dauer und Form variieren
Die Diagnostik basiert primär auf der umfassenden Schwindel- und Kopfschmerzanamnese. Kennzeichnend für die Erkrankung sind anfallsweise auftretende vestibuläre Symptome von mittelstarker bis starker Intensität und einer Dauer zwischen 5 Minuten und 72 Stunden. Dabei können verschiedene Schwindelformen wie akuter Drehschwindel, posturale Instabilität oder visuell induzierter Schwindel auftreten – auch in Kombination. Es gibt eine chronische Form mit Schwindel an über 15 Tagen im Monat. Als Trigger gelten vor allem Stress, helles Licht, Schlafentzug, ausgelassene Mahlzeiten, Wetterwechsel und die Regelblutung.
Vestibuläre Migräne ist variabel mit Kopfschmerzen unterschiedlicher Intensität assoziiert, erläutert der Neurologe. Ein Drittel der Betroffenen hat immer gleichzeitig mit dem Schwindel Kopfschmerzen, mehr als die Hälfte manchmal, die übrigen nie. Diagnostisches Kernkriterium für vestibuläre Migräne sind die Begleitsymptome. Besonders relevant nach ICHD-3* sind:
- Lärmempfindlichkeit
- Lichtscheu
- visuelle Auren
Der ICHD-3 folgend ist für die Diagnosesestellung der Ausschluss konkurrierender Krankheiten vonnöten. Dies führt neben den allgemeinen Untersuchungen zu einer umfassenden Gleichgewichtsdiagnostik beim Spezialisten, um andere vestibuläre Ursachen und insbesondere peripher-vestibuläre Erkrankungen auszuschließen. Bei einigen Patienten ergeben sich pathologische Befunde wie Spontannystagmus oder Blickrichtungsnystagmus, wie Prof. Rambold beschreibt. Keiner davon ist jedoch spezifisch für die vestibuläre Migräne. Patienten mit vestibulärer Migräne zeigen auch häufig abnormale Ergebnisse im Romberg-Versuch und im Sensory Organization Test. Auch diese Verfahren erlauben jedoch keine klare Differenzierung von anderen Schwindelerkrankungen.
Zum Ausschluss von strukturellen Hirnveränderungen dient die kraniale MRT. Die Bildgebung sollte aber nur eingesetzt werden, wenn sich die Symptome ändern, neue Zeichen auftreten oder ein begründeter Verdacht auf eine strukturelle Läsion besteht, betont Prof. Rambold.
Als primäres differenzialdiagnostisches Kriterium lässt sich die Dauer der Schwindelattacken nutzen. So dürfte die Abgrenzung der vestibulären Migräne vom benignen paroxysmalen Lagerungsschwindel recht leicht fallen, der nur wenige Minuten andauert, zudem mit typischen Nystagmusbefunden einhergeht und auf Befreiungsmanöver anspricht.
Schwieriger wird es bei Morbus Menière, bei dem der Schwindel über Stunden anhalten kann. Während aber die auditorischen Symptome bei vestibulärer Migräne nur leicht und von vorübergehender Natur sind, zeichnet sich der Morbus Menière durch deutliche und anhaltende Hörverluste im Niedrigfrequenzbereich aus. Für die Menière-Krankheit sprechen auch ein in der Attacke auftretender Nystagmus von > 12 Grad/s, eine chronische kalorische Seitendifferenz von > 25 % und ein pathologischer vibrationsinduzierter Nystagmus.
Hirnstamm- oder Kleinhirnischämien gehen mit Schwindel über Stunden bis Tage einher. 20 % der Schlaganfälle im vertebrobasilären Stromgebiet manifestieren sich mit einem akuten vestibulären Syndrom. In der Akutsituation, vor allem wenn anamnestische Daten fehlen, macht die Abgrenzung von der vestibulären Migräne Probleme, so Prof. Rambold. Bestehen zusätzliche Symptome wie Lähmung oder Hirnnervenausfälle und liegen vaskuläre Risikofaktoren vor, hat man es mit hoher Wahrscheinlichkeit mit einem Schlaganfall zu tun und sollte entsprechend handeln, empfiehlt der Experte.
Komorbiditäten erschweren häufig die Diagnostik
Die Neuritis vestibularis kann einer Attacke bei vestibulärer Migräne durchaus ähnlich sehen. Man findet aber meist einen torsionell-horizontalen Spontannystagmus, der sich durch Fixation supprimieren lässt, und einen pathologischen Kopf-Impuls-Test. Der Nystagmus der vestibulären Migräne kann ähnlich aussehen, doch der Kopf-Impuls-Test fällt dann kaum je pathologisch aus.
Richtig knifflig kann es werden, wenn vestibuläre Migräne zusammen mit anderen Schwindelerkrankungen auftritt. Dies ist keineswegs eine Rarität, berichtet der Experte: Mehr als 10 % der Patienten haben gleichzeitig einen benignen paroxysmalen Lagerungsschwindel oder M. Menière, 60 % zusätzlich Kinetosen. Sehr hoch ist auch die Komorbiditätsrate für psychiatrische Erkrankungen, allen voran Angststörungen (70 %), Depression (40 %) und Schlafstörungen (30 %).
* International Classification of Headache
Quellen:
1. Disorders, 3. Auflage
2. Rambold HA. Nervenheilkunde 2022; 41: 768-776; doi: 10.1055/a-1866-4615