Krebsscreenings schaden den Patienten mitunter mehr, als sie nutzen
Der Bremer Allgemeinmediziner Dr. Alfred Haug sieht Früherkennungsmaßnahmen kritisch. Von den vier häufigen Screenings auf Brust-, Prostata-, Darm- und Hautkrebs würden zwei überhaupt nichts bringen, eines sei eingeschränkt sinnvoll. Das Problem: Frauen wie Männer werden unzureichend über Nutzen und Risiken informiert. „Da müssen wir Aufklärungsarbeit leisten“, appellierte der Kollege.
Wer Patienten gründlich beraten will, kommt um ein paar statistische Basics nicht herum. Vor allem mit den Begriffen Sensitivität (Rate an richtig positiven Befunden), Spezifität (Rate an richtig negativen Befunden) und falsch positiv sollten Sie umgehen können. Screenings zeichnen sich allgemein durch eine hohe Sensitivität aus – und zwar auf Kosten der Spezifität.
Um genau das zu veranschaulichen, greift Dr. Haug im Arzt-Patienten-Gespräch gerne auf Faktenboxen (s. Kasten) und die bekannte Vierfeldertafel zurück. Mit diesen einfachen Mitteln lassen sich Irrtümer aus dem Weg räumen. Ob Interessierte dann zum Screening gehen, müssen sie letztlich selbst entscheiden, so der Referent.
Fakten über Faktenboxen
Mammographie-Screening
Im Jahr 2016 nahmen 2,8 der 5,3 Millionen eingeladenen Frauen an der Untersuchung teil. Einer Umfrage zufolge machte jede Zweite die Entscheidung für oder gegen das Screening im Wesentlichen von ihrem (Frauen-)Arzt abhängig. Was manche Kollegen bei ihrer Beratung womöglich verschweigen: Wer sich 20 Jahre lang regelmäßig der Mammographie unterzieht, dem droht wahrscheinlich ein auffälliges (meist falsch positives) Ergebnis. Ängste und eventuell schädliche medizinische Prozeduren können folgen. Laut Gemeinsamem Bundesausschuss hat eine von fünf positiv Getesteten tatsächlich Brustkrebs. Auf 1000 Screenings bezogen entspricht das in der Vierfeldertafel 6 von 30 Frauen. Immerhin: Eine Analyse des Harding-Zentrums für Risikokompetenz ergab, dass die brustkrebsspezifische Mortalität durch die Früherkennungsmaßnahme relativ um 20 % sinkt. Dr. Haug attestiert der Mammographie somit einen gewissen Vorteil, zieht unterm Strich aber ein eher negatives Fazit. Strahlenbelastung kann Brustkrebs verursachen Die Krebssterblichkeit insgesamt reduziere sich nämlich nicht. Über einen Zeitraum von etwa elf Jahren erliegen 22 von 1000 Frauen (ab einem Alter von 50 Jahren) irgendeinem Tumor – unabhängig davon, ob sie regelmäßig zum Brustkrebsscreening gehen oder nicht. Zudem würden sich alle Teilnehmerinnen einer Strahlenbelastung aussetzen, die kumuliert über zwei Jahrzehnte bei 7 von 100 000 Personen selbst ein Mammakarzinom bedingen kann.PSA-Test plus Tastbefund
Beim Prostatakrebs-Check hält es der Bremer Hausarzt wie die DEGAM: „Sprechen Sie Patienten nicht von sich aus auf den PSA-Test an.“ Sogar der Entdecker des prostataspezifischen Antigens distanziert sich inzwichen von der Untersuchung. An der Gesamtmortalität ändert sie nämlich nichts. Dafür werden 160 von 1000 Männern unnötig biopsiert und 20 von 1000 sogar unnötig operiert oder bestrahlt. Man(n) stirbt also nicht an, sondern mit Prostatakrebs Die Prävalenz des Tumors ist derart hoch, dass schätzungsweise vier von fünf der über 80-Jährigen ein Prostatakarzinom aufweisen. Man(n) stirbt also nicht an, sondern mit diesem Krebs, erklärte Dr. Haug. Zwar gebe es durchaus aggressive Verlaufsformen. Diese zu entdecken, könne ein Screening aber nicht leisten.Darmkrebsvorsorge
Mortalität und Morbidität des Kolonkarzinoms gehen seit 15 Jahren langsam zurück. Seit dem 1. Juli 2019 läuft das organisierte (Einladungs-)Screening zur Koloskopie und zum immunologischen Test auf okkultes Blut im Stuhl (i-FOBT). Laut Harding-Zentrum für Risikokompetenz bewahrt der i-FOBT eine von 1000 Personen vor dem Tod durch Darmkrebs. Gegenüber der Koloskopie treten schwere Komplikationen bei der Sigmoidoskopie seltener auf (25/10 000 vs. 3,4/10 000 Untersuchungen). Der Blick ins Sigma ist besonders in Skandinavien üblich und verzeichnet als Vorsorgeinstrument ebenfalls Erfolge. Bei dieser Endoskopie werden die letzten 60 cm des Kolons eingesehen, wo sich zwei Drittel aller Darmneoplasien befinden. Deshalb und wegen der höheren Komplikationsrate hinterfragte Dr. Haug das Nutzen-Risiko-Verhältnis der in Deutschland beliebten großen Darmspiegelung. Möglich sei auch ein niederschwelligeres Screening, indem man nur die i-FOBT-positiven Personen zur Koloskopie schickt.Hautkrebsscreening
Eindeutig fällt das Urteil des Kollegen zur Hautkrebsfrüherkennung aus. Er bezeichnete sie als Gelddruckmaschine der Hautärzte und Marketinginstrument der Krankenkassen. Manche Kassen würden die Maßnahme sogar für Kinder erstatten. „Das macht überhaupt keinen Sinn!“ Zumal es sich beim Melanom um eine seltene Erkrankung mit einer Prävalenz von 22/100 000 handelt. Mortalität an malignen Melanomen unverändert Ein Massenscreening wie das in Deutschland ist weltweit einzigartig, jährlich werden sieben Millionen Untersuchungen durchgeführt. Doch seit der Einführung im Jahr 2008 nahm die Mortalität an malignen Melanomen nicht ab. Vorwiegend finden sich Basaliome und langsam wachsende dünne Tumoren.Quelle: 44. practica Bad Orb