Internationale Klassifikation Neue Schubladen für orofaziale Schmerzen
Die althergebrachte Einteilung in Trigeminusneuralgie und atypische Mund- und Gesichtsschmerzen ist inzwischen völlig überholt. Um dem aktuellen Kenntnisstand Rechnung zu tragen, hat die Deutsche Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft die internationale Klassifikation orofazialer Schmerzen (ICOP*) ins Deutsche übertragen, erläutern PD Dr. Charly Gaul vom Kopfschmerzzentrum Frankfurt a. M. und der in Frankfurt niedergelassene Zahnarzt Dr. Dr. Frank Sanner.
Als orofazial definiert wird danach das Areal unter der Orbitomeatallinie, oberhalb des Halses und vor dem Ohr. Als chronisch gelten Schmerzen, wenn sie an mehr als 15 Tagen im Monat und über einen Zeitraum von mehr als einem Vierteljahr vorliegen. In der Klassifikation wird gefordert, dass diese Beschwerden über mehr als zwei Stunden anhalten in einem Zeitraum von über drei Monaten. Die Zweistundengrenze für die Attackendauer gilt allerdings nicht für Syndrome, die aus der zugrunde liegenden internationalen Kopfschmerz-Klassifikation (ICHD-3**) unverändert übernommen wurden – wie etwa die paroxysmale Hemikranie.
Manchen Patienten wurden unnötig Zähne gezogen
Von Vorteil ist, dass nun auch orofaziale Beschwerden definiert werden können, deren Symptome denen primärer Cephalgien entsprechen, sich aber im Gesicht manifestieren. Klinische Bedeutung haben die entsprechenden Varianten von Migräne und Clusterkopfschmerz. Das Vorgehen nach neuer Klassifikation ermöglicht eine diagnosespezifische Behandlung. Tritt beispielsweise ein Syndrom mit den zeitlichen Charakteristika einer Migräne auf, aber statt als halbseitiger Kopfschmerz im Mund, kann der Patient akut mit einem Triptan und vorbeugend mit einem Betablocker oder einem anderen Prophylaktikum therapiert werden.
Die Kriterien für die Diagnose einer orofazialen Migräne wurden von der Migräne übernommen. Im Unterschied zur Kopfschmerzklassifikation spricht die ICOP von einem Gesichts- und/oder intraoralen Schmerz ohne Cephalgie.
Entsprechendes gilt für den Clusterkopfschmerz. Bei diesem strahlen die Beschwerden oft in den Oberkiefer aus oder entwickeln sich überwiegend dort. Doch dieses Phänomen war bisher nur unzureichend bekannt. Deshalb berichten mehr als 20 % der Patienten, ihnen seien Zähne gezogen worden, bevor die richtige Diagnose gestellt wurde. Beim orofazialen Cluster können die Attacken leichter verlaufen sowie kürzer oder länger anhalten als beim Clusterkopfschmerz. Manchmal stehen die autonomen Symptome auch weniger im Vordergrund oder zeigen sich anders als beim klassischen Bing-Horton-Syndrom.
Burning-Mouth-Syndrom leichter diagnostizierbar
Für das nicht seltene Zungenbrennen wurden nun klare Diagnosekriterien formuliert. Diese Erkrankung stellt im ärztlichen Alltag eine erhebliche diagnostische und therapeutische Herausforderung dar, zumal oft fälschlich eine Neuropathie vermutet wird. Typisch für das Burning-Mouth-Syndrom sind intraorale brennende Missempfindungen oder Sensibilitätsstörungen, die in einem Zeitraum von über drei Monaten für mehr als zwei Stunden täglich wiederkehren. Dabei darf die klinische Untersuchung keine anderen zugrunde liegenden Läsionen ergeben. Die Schmerzen haben eine brennende Natur und werden an der Oberfläche der Mundschleimhaut verspürt. Die Mukosa erscheint nicht verändert und lokale oder systemische Ursachen für die Beschwerden wurden ausgeschlossen.
Das langjährig etablierte biopsychosoziale Erklärungsmodell wird nun auch für die Diagnose Mund- und Gesichtsschmerz angewendet. Ergänzend werden diagnostische Instrumente wie Schmerzzeichnung und Fragebögen empfohlen. Beeinträchtigungen in allen Lebensbereichen und eine etwaige psychische Komorbidität sollten gezielt erfasst werden, um eine erfolgreiche (schmerz)psychologische Behandlung zu ermöglichen.
* International Classification of Orofacial Pain
** International Classification of Headache Disorders
Quelle: Gaul C, Sanner F. Nervenheilkunde 2024; 43: 120-124; DOI: 10.1055/a-2201-4576