Diskussion um Spahns geplante Reform des Risikostrukturausgleichs

Gesundheitspolitik Autor: Michael Reischmann

Mitglieder sollen zukünftig ihre Kassen frei wählen können – unabhängig des Standorts. Mitglieder sollen zukünftig ihre Kassen frei wählen können – unabhängig des Standorts. © auremar – stock.adobe.com

„Herr Spahn wird mit seinen Allmachts­fantasien Schiffbruch erleiden“, prophezeit der AOK-Chef von Baden-Württemberg und meint damit auch das angekündigte „Faire-Kassenwahl-Gesetz“. Denn was die Ersatzkassen begeistert, stößt Vertretern der AOK bitter auf.

Die Zeiten, als Novellen so sperrige Namen wie „Gesetz zur Weiterentwicklung der Organisationsstrukturen in der GKV“ (2009) hatten, sind vorbei. Wenn das Familienministerium ein „Gute-KiTa-Gesetz“ formulieren kann, kriegt das Bundesgesundheitsministerium (BMG) auch ein „Faire-Kassenwahl-Gesetz“ hin. Dieses ist der überfälligen Weiterentwicklung des Risikostrukturausgleichs (RSA) und des GKV-Organisationsrechts gewidmet.

Seit Jahren folgt Gutachten auf Gutachten, was beim RSA zu ändern ist, damit Manipulationsanfälligkeiten und Unwuchten im Finanzausgleich beseitigt werden. Ende März hat das BMG seine Ideen für eine Reform vorgelegt – und damit Zustimmung bei den Ersatzkassen, den bisherigen RSA-Leidtragenden, sowie Kritik von der AOKen, den RSA-Profiteuren, geerntet.

Uneingeschränkte Auswahl an (kostengünstigsten) Kassen

Denn Minister Jens Spahn (CDU) hat wieder einen beherzten Aufschlag gewagt – wohl wissend, dass kein Gesetz so beschlossen wird, wie es zunächst präsentiert wurde. Wesentliche Änderungsabsichten sind:

  • Die regionale Begrenzung der AOKen bzw. die gesetzliche Begrenzung der geöffneten BKKen und IKKen soll gestrichen werden. Kassen mit unterdurchschnittlichen Zusatzbeitragssätzen würden damit für Mitglieder aus dem gesamten Bundesgebiet wählbar.
  • Damit verbunden ist eine einheitliche Rechtsaufsicht durch das Bundesversicherungsamt (BVA), „die weitere Wettbewerbsverzerrungen durch Unterschiede im Aufsichtshandeln beseitigt“.

Risikopool für Therapien, die mehr als 100 000 Euro kosten

Während die Vorstandsvorsitzende des Ersatzkassenverbandes, Ulrike Elsner, die „bundesweite Öffnung und eine einheitliche Aufsicht“ lobt, kritisiert der Vorstandschef des AOK-Bundesverbandes, Martin Litsch: Mehr Wechselmöglichkeiten für diejenigen zu schaffen, die in günstigere Kassen abwandern wollen, zeige ein „elitäres Wettbewerbsverhältnis, das junge und gesunde Versicherte privilegiert“. Besser sei es, den bundesweiten Kassen zu erlauben, regionale Zusatzbeiträge nehmen zu dürfen. Auch Landesgesundheitsminister, die die Rechtsaufsicht über regionale Kassen wie die AOK haben, lehnen Spahns Plan ab. Der hat aber noch mehr vor, z.B.:

  • Die Begrenzung des RSA auf 50 bis 80 Krankheiten wird aufgehoben; das gesamte Krankheitsspektrum wird berücksichtigt.
  • Es werden regionale Variablen, z.B. der Anteil der ambulant Pflegebedürftigen, in den RSA einbezogen. „Angebotsorientierte Faktoren“ wie Arztdichte und Klinikbettenzahl werden ignoriert.
  • Das Kriterium Erwerbsminderung wird im RSA gestrichen. Eine Vorsorgepauschale wird eingeführt.
  • Ein „Risikopool“ finanziert für jeden Patienten 80 % der Therapiekosten, die über 100 000 Euro pro Jahr hinausgehen.
  • Hohe Steigerungsraten bei Dia­gnosen lassen vermuten, dass die Kodierung beeinflusst wurde. Deshalb sollen alle Kassen für hierarchisierte Morbiditätsgruppen (HMG), die eine bestimmte Zuwachsrate überschreiten, keine Zuweisungen mehr erhalten.
  • Die Bildung einer Hausarzt-HMG wird geprüft. Bei identischen Diagnosen könnten dann Zuschläge in Abhängigkeit davon bezahlt werden, ob die Diagnose von einem Hausarzt (niedrigere Kosten) oder einem Facharzt stammt.
  • Das BVA ist für den RSA zuständig und hat Selektivverträge auf RSA-relevante Verstöße (mit Beweislastumkehr) zu prüfen.
  • Für Kassenpleiten haftet künftig der GKV-Spitzenverband, der die Kosten auf alle Kassen verteilt.
  • Eine Kasse, die sich durch den Rechtsverstoß eines Konkurrenten (z.B. Angebot unzulässiger Satzungsleistungen) benachteiligt sieht, kann diesen bei einem im Wettbewerbsrecht erfahrenen Zivilgericht verklagen.
  • Der Verwaltungsrat des GKV-Spitzenverbandes soll nicht mehr aus Ehrenamtlichen, sondern aus Vorstandsmitgliedern von Kassen gebildet werden. Eine Quotenpflicht sorgt für „eine angemessene Repräsentanz von Frauen“ in Vorstand und Verwaltungsrat.

Die Einführung der regionalen RSA-Variablen wird dazu führen, dass die Beitragsgelder dort hinfließen, wo sie für die Versorgung der Patienten tatsächlich benötigt werden, meint der Barmer-Vorsitzende Professor Dr. Christoph Straub.

AOK-Bundesverbandschef Litsch befürchtet dagegen, dass die „geplanten Metropolzuschläge“ Gelder vom Land in „überversorgte städtische Gebiete umleiten, um dort verkrustete Versorgungstrukturen zu zementieren“. Auch von „unwirtschaftlichen Ist-Ausgaben-Ausgleichen“, gemeint ist der Risikopool für teure Therapien, solle man absehen. Statt „regionale Krankenkassen als maßgebliche Player platt zu machen“, so Litsch, bedürfe es größerer Spielräume für regionale Vertragslösungen.

„Fan der Selbstverwaltung“ – solange sie funktioniert

„Zentralismus und Dirigismus“ ärgern Baden-Württembergs AOK-Chef Dr. Christopher Hermann, der „klare Tendenzen“ beim Bundesgesundheitsminister entdeckt. Der GKV-Spitzenverband moniert ebenfalls: Mit der Übernahme von 51 % der Gesellschafteranteile an der gematik habe das BMG die gemeinsame Selbstverwaltung faktisch ausgeschaltet. Und ein Systembruch bei der Methodenbewertung durch den Gemeinsamen Bundesausschuss drohe, wenn das BMG sich gesetzgeberisch die Möglichkeit einräumen lasse, Untersuchungs- und Behandlungsmethoden per Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrats in den GKV-Katalog aufzunehmen.

Minister Spahn erwidert auf solche Kritik üblicherweise, dass er ein „Fan der Selbstverwaltung“ sei. Aber wenn sich auf Dauer zeige, dass die Selbstverwaltung eine ihr übertragene Aufgabe nicht lösen könne, müsse die Politik tätig werden. Und das probiert der Minister seit gut einem Jahr mit sichtbarem Eifer.


Medical-Tribune-Bericht