Dr. Fischbach, Kinderarzt in Solingen, erklärte bei der Vorstellung des Schreibens in Berlin, dass Adipositas mittlerweile einen erheblichen Stellenwert in seiner Praxis einnähme. Kinder litten an Auswirkungen des Übergewichts auf Skelett und Muskulatur, an Plattfüßen, an hohem Blutdruck und
Diabetes Typ 2. Im Jahr 1984 habe er approbiert, so Dr. Fischbach: „Hätte ich damals gesagt, es gebe Diabetes 2 im Kindesalter, wäre ich durchgefallen.“
„Eine unausgewogene Ernährung, die häufig bereits im Kindesalter erlernt wird, ist einer der Gründe für diese besorgniserregende Entwicklung“, heißt es in dem Brief. Die Autoren verweisen darauf, dass weltweit Länder Sonderabgaben oder -steuern für gesüßte Getränke eingeführt oder deren Einführung angekündigt haben. Dies zeige Wirkung. Hersteller minderten den Zuckergehalt und der Konsum der betroffenen Produkte gehe zurück.
Die Ärzte und ihre Unterstützer fordern von der Bundesregierung:
- eine verständliche Lebensmittelkennzeichnung in Form einer Nährwert-Ampel
- Beschränkungen der an Kinder gerichteten Lebensmittelwerbung
- verbindliche Standards für die Schul- und Kitaverpflegung
- steuerliche Anreize für die Lebensmittelindustrie, gesündere Rezepturen zu entwickeln
Auch die mittlerweile messbaren Erfolge in der Tabak-Prävention seien schließlich nur mithilfe verbindlicher Vorgaben erreicht worden, betonen die Ärzte. „Allein Aufklärung reicht nicht, drei Viertel der Menschen wissen, wie gesunde Ernährung geht. Die Realität der Menschen muss sich verändern“, begründete Dr. Jens Baas, Vorsitzender der Techniker Krankenkasse, die Unterstützung seitens der Kasse. Von den zehn Millionen Versicherten der TK sei fast eine Million adipös. „Dabei geht es nicht darum, süß oder salzig zu verteufeln“, stellte der Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes Martin Litsch klar. Es gehe schlicht um ein „weniger“. „Doch um das zu erreichen, braucht es gesetzliche Vorgaben.“ Längst sei klar, dass sich die Lebensmittelindustrie nur auf Druck bewege.
Ärzte haben kein Vertrauen in Freiwilligkeit der Industrie
„Bitte machen Sie Ernst mit der Prävention von Adipositas, Typ-2-Diabetes und anderen chronischen Krankheiten“, lautet der Appell der Ärzte und Unterstützer an die Budeskanzlerin, ihre Minister und die Parteivorsitzenden. „All diese Maßnahmen erfordern keine große Bürokratie, aber wir hätten die Chance, die Adipositas-Welle aufzuhalten und umzukehren“, ist Dr. Dietrich Garlichs, Beauftragter des Vorstands der DDG, überzeugt. „Den Tsunami der Lebensstilerkrankungen kann man nicht mit kosmetischen Maßnahmen stoppen.“
Die neue Bundesregierung hat bereits eine „nationale Strategie für die Reformulierung von Lebensmitteln“ angekündigt. Vom Effekt zeigen sich die Autoren allerdings nicht überzeugt, da bei der Umsetzung auf Freiwilligkeit der Industrie gesetzt wird. Zudem lehnt die neue Bundesministerin für Ernährung und Landwirtschaft Julia Klöckner (CDU) wie schon ihr Vorgänger Christian Schmidt (CSU) Steueränderungen und Nährwert-Ampel ab. Kritiker vermuten dahinter Interessenskonflikte zwischen Agrarpolitik und Verbraucherschutz. Sie fordern die Anbindung beider Bereiche in verschiedenen Ministerien.
Es sei naiv, wenn die Regierung auf Freiwilligkeit setze, sagte dazu Oliver Huinzinga von foodwatch. Die Gewinnspanne bei Zucker sei schließlich dreimal so hoch wie bei Obst und Gemüse. „Ministerin Klöckner täte gut daran, auf die Stimmen aus der Fachwelt zu hören.“
Äußerungen seitens des Bundes für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde lassen an einer konsequenten Umsetzung von Selbstverpflichtungen zweifeln. Christoph Minhoff, Hauptgeschäftsführer des Spitzenverbandes, erklärte: „Wir als Lebensmittelwirtschaft benötigen keine Belehrungen von Interessengruppen.“