Fallstricke der Epilepsietherapie

Neurowoche 2022 Manuela Arand

Mindestens jeder vierte Epilepsiekranke hat psychiatrische Komorbiditäten oder entwickelt diese. Mindestens jeder vierte Epilepsiekranke hat psychiatrische Komorbiditäten oder entwickelt diese. © Kateryna_Kon‒ stock.adobe.com

Sind Epilepsiepatienten schon älter oder multimorbide, muss das bei der Behandlung bedacht werden. Gleiches gilt für Frauen mit Kinderwunsch, Schwangere und Betroffene mit psychischen Erkrankungen. Eine Übersicht über Patienten mit besonderem Therapiebedarf.

Nach einem ersten epileptischen Anfall wird etwa die Hälfte der Betroffenen unter einer Monotherapie anfallsfrei. Bleibt der Erfolg aus, bringt das zweite Anti­epileptikum weiteren 12 % Anfallsfreiheit. Mit jedem weiteren Therapieversuch sinken die Chancen dagegen weiter. Unter den mehr als 20 verfügbaren Antikonvulsiva die richtige Wahl zu treffen, ist oft nicht einfach: „Alle sind ähnlich gut wirksam, unterscheiden sich aber in der Verträglichkeit und im Nebenwirkungsprofil“, stellte Prof. Dr. ­Susanne ­Knake vom Epilepsiezentrum Hessen, Universität Marburg, fest. Da der Therapieerfolg maßgeblich von der Adhärenz abhängt und Nebenwirkungen – neben der Reduktion von Anfallsschwere und -frequenz – die Lebensqualität der Patienten am stärksten beeinflussen, verdient dieses Kriterium bei der individualisierten Wirkstoffauswahl besondere Aufmerksamkeit.

Der ältere Patient

Die Inzidenz von Epilepsien ist bei über 65-Jährigen so hoch wie in keiner anderen Altersgruppe und steigt mit den Jahren immer weiter an: Bei über 80-Jährigen sind bereits mehr als 200/100.000 betroffen. Die Diagnostik gestaltet sich oft schwierig; ebenso die Therapie. Leber- und Nierenfunktion sind häufig eingeschränkt, Albumin und Plasmaeiweiße reduziert. Das ist bei der Wahl des Arzneimittels ebenso zu berücksichtigen wie die Komedikation und mögliche Wechselwirkungen.

Die Patienten haben häufig schon vor der Epilepsie mit Gangstörungen und Schwindel gekämpft, die sich unter antikonvulsiver Therapie oft noch verstärken. Das erschwert es zu sagen, ob eine Symptomzunahme eine Folge der Therapie ist oder nicht. Eine internationale Arbeitsgruppe hat kürzlich untersucht, inwiefern sich Nebenwirkungsprofile bei Patienten über und unter 60 Jahren unterscheiden.1 Die Älteren zeigten über das gesamte Spektrum an Nebenwirkungen doppelt bis dreifach so hohe Raten, vor allem bei Schwindel, Somnolenz, Übelkeit und Sehstörungen.

Stürze unter Antikonvulsiva können fatale Folgen nach sich ziehen, auch weil die Knochendichte unter antikonvulsiver Therapie abnimmt. Das Osteoporoserisiko steigt mit der Dauer der Therapie und der Anzahl der eingenommenen Antiepileptika, warnte Prof. ­Knake. Frauen in der Postmenopause erleiden doppelt so häufig Hüftfrakturen, wenn sie Antiepileptika nehmen. Das Frakturrisiko ist bei den älteren Antiepileptika zwar besonders hoch, aber auch bei einigen neueren Wirkstoffen nicht zu vernachlässigen. Unter Behandlung mit Substanzen wie Topiramat, Carbamazepin, Oxcarbazepin, Clobazam und Valproat sollte deshalb regelmäßig die Knochendichte gemessen werden – auch bei Männern und jüngeren Patienten. Die Empfehlung lautet alle fünf bis zehn Jahre, je nach Vorbefunden und Begleitumständen.

Der psychisch kranke Patient

Mindestens jeder vierte Epilepsiekranke hat psychiatrische Komorbiditäten oder entwickelt diese. „Wenn Patienten ohnehin schon eine psychiatrische Erkrankung haben, muss man besonders vorsichtig sein, welches Antiepileptikum man verordnet“, betonte Prof. ­Knake. Die falsche Medikation könne etwa eine vorbestehende Depression noch verschlimmern. „Beim zweiten oder dritten Arztbesuch sieht man dann, dass der Patient das Medikament noch nimmt, aber zusätzlich ein Antidepressivum“.

In einem Review haben Wissenschaftler kürzlich vier Antikonvulsiva hinsichtlich ungünstiger Verhaltenseffekte wie Reizbarkeit, Wut und Aggression verglichen und festgestellt, dass Reizbarkeit unter Perampanel und Levetiracetam besonders häufig auftrat, Wut unter Brivaracetam und Aggression unter Perampanel.2 Topiramat scheint dagegen selten adverse Verhaltenseffekte auszulösen.

Der multimorbide Patient

Bei multimorbiden Patienten ist besonders auf hepatotoxische Effekte (drug-induced liver injury, DILI) zu achten, die unter einigen Antiepileptika gehäuft auftreten. US-Kollegen haben 2,6 Millionen Verdachtsmeldungen an die FDA zwischen Juli 2018 und März 2020 gesichtet, in denen über Leberversagen unter Antikonvulsiva berichtet wurde.3 Knapp 2200 DILI wurden tatsächlich den Medikamenten zugeordnet, fast alle davon waren als schwerwiegend oder sogar lebensbedrohlich einzustufen. Carbamazepin, Phenobarbital, Oxcarbazepin, Phenytoin, Valproat und Lamotrigin wurden zwei- bis dreimal so oft gemeldet wie Nicht-Antikonvulsiva; Clobazam, Levetir­acetam und Diazepam immerhin noch rund 1,5-mal so häufig. 

Natürlich sind bei der Verordnung die Leber- und Nierenfunktion der Patienten zu beachten, da die einzelnen Wirkstoffe sehr unterschiedlich metabolisiert und eliminiert werden. Bei Levetiracetam beispielsweise muss die Verordnung angepasst werden, wenn der Patient an die Dia­lyse muss: Pro vier Stunden Dialyse braucht er 250 mg bis 500 mg mehr. Topiramat wird zu 80 % unverändert renal eliminiert, weshalb bei unter 70 ml/min sinkender GFR die Dosis halbiert, bei Dialysepflicht aber verdoppelt werden muss.

Mögliche Ursachen für Pseudorefraktarität

  • Falsche Diagnose – alternativ: Synkope, Arrhythmie, psychogene Anfälle
  • Falsche Medikation – inadäquat für den Anfallstyp, Wechselwirkungen
  • Falsche Dosis – zu niedrig, z. B. weil Nebenwirkungen Auftitrieren verhindern
  • Ungünstiger Lebensstil – schlechte Compliance, Alkohol- oder Drogenabusus

nach Kwan P et al. NEJM 2011; 365: 919-926; DOI: 10.1056/NEJMra1004418

Frauen mit Epilepsie

Kontrazeption und Kinderwunsch sind bei Patientinnen mit Epilepsie ein wichtiges Thema, das viel zu selten angesprochen wird. Autofahren bei Epilepsie wird häufiger thematisiert als Schwangerschaft und Geburt. Viele Frauen verzichten wegen ihrer Erkrankung auf Kinder, denn jede Zweite glaubt, dass sie aufgrund ihrer Epilepsie kein gesundes Baby zur Welt bringen kann. Entsprechend tritt die Hälfte der Schwangerschaften ungeplant ein.

Ähnlich desolat ist die Information zur Kontrazeption: „Nur die Hälfte der Patientinnen fühlt sich dazu gut beraten“, konstatierte Prof. Knake. In vier von fünf Fällen übernimmt der Neurologe die Beratung, nicht der Gynäkologe. Neurologen sollten sich mit dem Thema also gut auskennen, zumal eine ganze Reihe älterer Antikonvulsiva in ihrer Wirksamkeit reduziert sind, wenn eine Patientin die Pille nimmt. 

„Wir sehen in der Ambulanz öfter junge Frauen, die noch vom Kinderarzt gut mit Lamotrigin eingestellt wurden und plötzlich darüber klagen, dass es nicht mehr wirkt“, erzählte Prof. Knake. „Wenn wir dann fragen, was anders ist, stellt sich heraus, dass sie jetzt die Pille nehmen.“ In diesen Fällen muss die Dosis dem Spiegel angepasst erhöht werden. Aber Vorsicht: In der monatlichen Pillenpause kann der Spiegel dadurch in toxische Bereiche steigen. Deshalb kann es sinnvoll sein, der Frau zu raten, die Pille durchgängig zu nehmen.

Auch die Empfehlungen zur Folsäuresupplementation müssen möglicherweise überdacht werden. Die Leitlinien empfehlen die ergänzende Einnahme für alle Frauen mit Epilepsie, was zweifellos sinnvoll ist – ob die Patientin eine Schwangerschaft plant oder nicht (die US-Gynäkologen legen gleich noch ein Multivitaminpräparat obendrauf). Nur sollte der Arzt darauf achten, dass die Dosis zumindest während der Schwangerschaft moderat bleibt. Eine brandaktuelle skandinavische Registerstudie deutet darauf hin, dass Kinder fast dreifach häufiger an Krebs erkranken, wenn sie im Mutterleib hohen Folatspiegeln ausgesetzt waren, möglicherweise aufgrund veränderter DNA-Methylierung und blockierter Reparaturmechanismen. „Das muss uns nicht in Panik versetzen, aber man sollte die Studie kennen und eventuell seine Empfehlung anpassen“, meinte Prof. Knake. Sie hat ihre Verordnungen nach unten korrigiert auf 0,4 mg/Tag. 

Der therapierefraktäre Patient

Auf 30 % wird der Anteil von Patienten beziffert, die unter zwei gut vertragenen, angemessen ausgewählten und hoch genug dosierten Antikonvulsiva kein befriedigendes Therapieergebnis erreicht haben. Solche therapierefraktären Patienten haben ein massiv erhöhtes Risiko für SUDEP, den Sudden Unexplained Death in Epilepsy, warnte Prof Knake. „Schon deshalb sollten wir versuchen, Therapietreue und letztlich Anfallsfreiheit zu erreichen.“ Zunächst gilt es natürlich, Problemursachen abzuklären. Ein neuer Kandidat im Ring, das gleichzeitig am GABA-Rezeptor und den spannungsabhängigen Natriumkanälen angreifende Cenobamat, bietet Chancen bei therapierefraktärer Epilepsie, aber um den Preis eines erhöhten Wechselwirkungsrisikos bei langer Halbwertzeit. Laut Prof. Knake ist es wichtig, langsam zu titrieren, auch wenn sich der Steady State dann verzögert einstellt. Also mit 12,5 mg beginnen, alle zwei Wochen verdoppeln, bis die Zieldosis von 200 bis 400 mg erreicht ist. Bei allen therapierefraktären Patienten gilt: Lieber früher als später mit den Neurochirurgen beraten, ob eine chirurgische Lösung infrage kommt.

Kongressbericht: NEUROWOCHE 2022

Quellen:
1. Andermann E et al. Epilepsy Res 2021; 169: 106478;  DOI: 10.1016/j.eplepsyres.2020.106478
2. Steinhoff BJ et al. Epilepsy Behav 2021; 118: 107939;   DOI: 10.1016/j.yebeh.2021.107939
3. Kamitaki BK et al. Epilepsy Behav 2021; 117: 107832;  DOI: 10.1016/j.yebeh.2021.107832
4. Vegrim HM et al. JAMA Neurol 2022;  DOI: 10.1001/jamaneurol.2022.2977

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