
„Molekulargenetische Untersuchungen unbedingt in der Routine durchführen“

Herr Prof. Scheid, vor Kurzem ist die neue S3-Leitlinie zum Multiplen Myelom erschienen. Bitte erläutern Sie die Empfehlungen in Bezug auf die Diagnostik.
Prof. Scheid: Es war uns besonders wichtig, herauszustellen, wie essenziell eine frühzeitige Entdeckung des Multiplen Myeloms ist. Man sollte nicht warten, bis Betroffene schwere Organschäden entwickeln, sondern die Behandlung an dem Punkt starten, an dem Organschäden beginnen oder auch nur drohen. Zur Abschätzung, ob die Erkrankung symptomatisch ist und damit einer Therapie bedarf, haben sich die SLiM-CRAB-Kriterien bewährt.
Zur Diagnose gehört eine umfassende Bildgebung. Hier wird in der Leitlinie beschrieben, wie sich Skelettschäden sowie der Myelombefall im Knochenmark oder in den extraossären Weichteilen möglichst sensitiv entdecken lassen. Das Röntgenbild ist dafür definitiv nicht geeignet – dieses hat nur noch einen Stellenwert in der Diagnostik von akuten Komplikationen, z.B. Knochenbrüchen. Für die Suche nach Myelomherden stellt die Low-dose-CT den Mindeststandard dar. Ist das CT negativ, würden wir die Ganzkörper-MRT zur Suche von fokalen Läsionen nahelegen.
Laut den SLiM-Kriterien ist das Vorliegen von mehr als einer fokalen Läsion im MRT eine Indikation zu einer Behandlung. Den Einsatz der PET-CT haben wir in der Leitlinienkommission lange diskutiert. Die Methode ist zwar sehr sensitiv, bleibt aber im Moment noch Einzelfällen vorbehalten, z.B. zur Abklärung der Frage, ob eine solitäre Läsion tatsächlich solitär ist oder ob doch eine systemische Erkrankung vorliegt. Spannende Daten liegen außerdem zur Verlaufskontrolle mittels PET-CT vor. Allerdings ist die PET-CT bisher keine Regelleistung in der Krankenversorgung.
Spielen auch molekulargenetische Untersuchungen eine Rolle?
Prof. Scheid: Ja, diese sind gerade für die Diagnostik des Hochrisiko-Myeloms wichtig. Es wurde jahrelang kritisch angemerkt, dass diese Befunde bisher keine therapeutischen Konsequenzen nach sich zogen. Das hat sich aber geändert: Heute empfehlen wir Betroffenen mit Hochrisiko-Myelom zwei Hochdosistherapien. Auch andere molekulargenetische Befunde können zur Behandlungsauswahl herangezogen werden. Zwar ist Venetoclax in der Indikation Myelom noch nicht zugelassen, es zeigt sich aber eine besondere Wirksamkeit bei einer Translokation 11;14. Wir raten daher dazu, molekulargenetische Untersuchungen unbedingt in der Routine durchzuführen, nicht zuletzt auch, um eine Stadieneinteilung nach dem revised ISS durchführen zu können.
Was gilt hinsichtlich der Verlaufs- und Rezidivdiagnostik?
Prof. Scheid: Da uns heute wirksamere Behandlungsmöglichkeiten als noch vor ein paar Jahren zur Verfügung stehen, erreichen Patient:innen ein immer besseres Ansprechen. Ein Therapieziel ist mittlerweile eine tiefe Remission. Führt eine Behandlung nur zu einer stabilen Erkrankung, sollte die Strategie optimiert werden. Bei einem Rezidiv gilt ebenfalls, dass die Therapie möglichst früh erfolgen sollte – man will hier auf keinen Fall ein Nierenversagen oder Knochenbrüche riskieren. Es gilt, die Behandlung so zu steuern, dass es möglichst nicht zu weiteren Organschädigungen kommt.
Vor dem Beginn einer erneuten Therapie ist abzuwägen, wie hoch das Paraprotein steigt, wie rasch dieser Anstieg vonstattengeht und ob die Patientin bzw. der Patient Symptome entwickelt – das alles können Anzeichen dafür sein, dass die Erkrankung bald zu Organschäden führen wird und einer Behandlung bedarf.
Welche Rolle spielt diesbezüglich die minimale Resterkrankung?
Prof. Scheid: Die MRD zur Beurteilung des Ansprechens ist ein zweischneidiges Schwert. In Studien wird die MRD-Diagnostik immer in einem großen Umfang berücksichtigt, weil Unterschiede im Ansprechen oft nicht mehr anders quantifizierbar sind. Wir hoffen, dass die Zulassungsbehörden die MRD auch bald als Endpunkt bei Studien akzeptieren. In der praktischen Versorgung existiert aber das große Problem, dass die Kosten der MRD-Bestimmung nicht erstattet werden, weil sich bisher keine therapeutischen Konsequenzen daraus ableiten lassen. Hier laufen zurzeit viele Studien, in denen untersucht wird, ob man die Behandlung bei einem MRD-negativen Ergebnis stoppen kann. In der Leitlinie konnten wir daher noch keine Empfehlung für die MRD-Diagnostik außerhalb von Studien aussprechen.
Was sind die wichtigsten Kriterien für die Wahl der Erstlinie?
Prof. Scheid: Das kalendarische Alter allein ist kein Maßstab, ob Patient:innen eine intensive Therapie erhalten oder nicht. Vielmehr zählt die Gesamtfitness, der Performancestatus, Vorerkrankungen und die von den Betroffenen gewünschte Behandlungsintensität.
Wichtig ist es, sowohl zu Beginn der Therapie als auch währenddessen den Status der oder des Erkrankten zu beurteilen und die Behandlung an den Zustand im Verlauf anzupassen.
Ist eine Person fit und wünscht eine intensive Behandlung, empfehlen wir eine Hochdosistherapie. Zur Objektivierung der Fitness empfehlen wir die Verwendung von Myelom-spezifischen Scores, z.B. den Freiburger Revised Myeloma Comorbidity Index oder den International Myeloma Working Group Frailty Index.
Welche Substanzen bzw. Kombinationen stehen für die Behandlung zur Verfügung?
Prof. Scheid: Mittlerweile sind zahlreiche wirksame Substanzen zugelassen. Allerdings konnten wir in der Leitlinie nur wenige Empfehlungen zu einzelnen Substanzen oder Kombinationen aussprechen, da oftmals direkte Vergleichsstudien fehlen. Solange diese nicht vorliegen, dürfen wir die Möglichkeiten nur benennen, aber in einer evidenzbasierten Leitlinie keine Wertungen vornehmen. Häufig existieren daher mehrere zugelassene Optionen, die derzeit nebeneinanderstehen.
In der Induktion sind Dreifachkombinationen zu favorisieren. Zugelassen ist weiterhin eine Vierfachtherapie, die einen Antikörper beinhaltet. Hier muss abgewogen werden zwischen der Toxizität und dem potenziellen Benefit für den Patienten bzw. die Patientin. Es besteht das Problem, dass auch eine Konsolidierung nach der Hochdosistherapie zugelassen wurde, obwohl zur Rolle der Konsolidierung noch widersprüchliche Studienergebnisse vorliegen.
Bei der Erhaltungstherapie ist die Sache einfacher, denn dazu ist bisher nur eine Substanz zugelassen. Im Non-Transplant-Bereich wiederum gibt es mehrere Optionen mit Kombinationstherapien mit und ohne Verwendung eines Antikörpers.
Was sind entscheidende Faktoren bei der Rezidivtherapie?
Prof. Scheid: Es existiert eine Reihe von Medikamentenkombinationen, die nebeneinanderstehen. Was man aber mit Sicherheit sagen kann: Zwei Substanzen sind besser als drei, dies hat sich in zahlreichen Vergleichsstudien immer wieder bestätigt. Die neuen Therapieoptionen mit CAR-T-Zellen oder einem Antikörper-Wirkstoff-Konjugat haben wir in der Leitlinie auch erwähnt, allerdings gibt es dazu bisher nur einarmige Studien und direkte Vergleiche zu bereits zugelassenen Triplet-Behandlungen fehlen. Wir warten zurzeit auf die Ergebnisse von entsprechenden Studien und planen, dann die Leitlinie entsprechend zu aktualisieren.
Stichwort Supportivtherapie: Wie wichtig erachtet die Leitlinie das Thema „Bewegung“?
Prof. Scheid: Bewegung, Physiotherapie und Sport spielen eine sehr große Rolle. Die Betroffenen sollten auf keinen Fall „ruhiggestellt“ werden. Das Ziel ist es vielmehr, sie durch eine wirksame Tumortherapie und andere Angebote, z.B. Schmerztherapie, wieder in Bewegung zu bringen. Gerade für Ältere kann sich die Lebensqualität so verbessern.
Quelle: Interview
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