Trägt die Regressangst zum Abrechnungsrückgang der psychosomatischen Ziffern bei?

Abrechnung und ärztliche Vergütung , Kassenabrechnung Autor: Maya Hüss

Das allmähliche Verstummen der sprechenden Medizin. Das allmähliche Verstummen der sprechenden Medizin. © iStock.com/alvarez

Die Abrechnungshäufigkeit der psychosomatischen Ziffern 35100 und 35110 im KV Gebiet Westfalen-Lippe geht zurück. Gleichzeitig gibt es immer mehr Menschen, die psychisch krank werden. Ein Fehler im System? Abrechnungsexperte Dr. Gerd W. Zimmermann erklärt, wie alles zusammenhängt.

Hausarzt Dr. Thomas Balthasar aus dem westfälischen Gronau beobachtet ein Phänomen, das er sich nicht erklären kann: Ständig sei von „sprechender Medizin“ die Rede, die Abrechnungshäufigkeit der psychosomatischen Leistungen gehe aber zurück – offensichtlich setzen immer weniger Kollegen die Leistungen an. Zahlen der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe stützen diese Wahrnehmung.

Kollegen setzen die Ziffern 35100 und 35110 seltener an

So fällt z.B für die letzten fünf Jahre ein stetiger Rückgang auf bei den Ziffern 35100, der differenzialdiagnostischen Klärung psychosomatischer Zustände, und der 35110, der verbalen Intervention bei psychosomatischen Krankheitszuständen, die jeweils mit 16,19 Euro vergütet werden und eine Mindestgesprächszeit von 15 Minuten beinhalten (siehe Tabelle). Dieser Rückgang lasse sich auf die im zweiten Halbjahr 2013 eingeführte Ziffer 03230 des problemorientierten ärztlichen Gesprächs zurückführen, berichtet eine KV-Sprecherin. „Hier könnte es womöglich, je nach Krankheitsbild der Patienten, zu einer Verschiebung gekommen sein.“

Abrechnungshäufigkeit der psychosomatischen Ziffern  von Allgemeinärzten in Westfalen-Lippe
EBM-Nr.20132014201520162017
35100508 367527 556512 620487 277456 978
35110762 276739 950661 154581 646532 432
Summe1.270 6431.267 5061.173 7741.068 923989 140
Die Zahl der Abrechnungshäufigkeit der Ziffern zur Psychosomatik ist im Nordwesten gesunken – um durchschnittlich 6,5 % pro Jahr; von 2016 auf 2017 sogar um über 9 %.

Quelle: Kassenärztliche Vereinigung Westfalen-Lippe

Abrechnungsexperte Dr. Gerd W. Zimmermann sieht das Problem woanders. Seiner Meinung nach hängt der Rückgang der Abrechnungen mit den Prüfvereinbarungen der Kassenärztlichen Vereinigungen und den Prüfgremien zusammen. Denn sobald Hausärzte den Fachgruppendurchschnitt um mehr als 25 % überschreiten, entstehe ein „offensichtliches Missverhältnis“, das im schlimmsten Fall eine Honorarrückforderung nach sich ziehen kann.

„Das Problem ist der Vergleich innerhalb der Fachgruppe“

Das Grundproblem dabei laut Dr. Zimmermann ist der Vergleich innerhalb der Fachgruppe. Da immer weniger Hausärzte die Nummern abrechnen würden, sinke der Fachgruppendurchschnitt. Dieser liegt für das 2. Quartal 2016 nach Zahlen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung bei 6,7 % für die Nummer 35110 – Ärzte, die die Ziffern vermehrt abrechnen, werden auffällig. Aus eigener Erfahrung weiß der Hausarzt zudem, wer einmal einen Regress riskiert hat, wird dieses Verhalten in Zukunft bleiben lassen. Zudem sei die sprechende Medizin budgetiert. „Wenn ich mir Zeit nehme und mich für 15 Euro mindestens 15 Minuten lang mit teils schwierigen Patienten auseinandersetze, ist das nicht besonders attraktiv. Da ist die Frustrationsgrenze schnell erreicht“, weiß Dr. Zimmermann.

Landärzte haben keine Zeit für lange Gespräche

Speziell auf dem Land, mit vollen Praxen und langen Hausbesuchen müssten Hausärzte ihre Patienten an Psychotherapeuten verweisen. Diese wiederrum würden sich über zu viele Patienten beklagen. Dafür wandelten immer mehr Krankenhäuser, ihre unbelegten Betten in „psychosomatische Betten“ um. „Im Grunde genommen wird durch den Regressdruck kein Geld eingespart, sondern es werden mehr Kosten erzeugt“, sagt der Experte. „Für das Geld, dass dafür eingesetzt wird, einen Patienten zwei bis drei Wochen in einer psychosomatischen Abteilung eines Krankenhauses zu versorgen, könnte man hundert Patienten ein ganzes Jahr lang in der Praxis behandeln.“ An der Situation lasse sich nicht viel ändern. Ärzte, die noch psychosomatischen Leistungen abrechnen, bildeten sozusagen die „schweigende Minderheit“. Denn anders als beim Thema Hausbesuche gebe es hier keine Mehrheit, die sich politisch gegen die derzeitige Situation einsetzen würde. „Wer die 35100 und 35110 ansetzt, verdient einen Orden und keinen Regress“, resümiert Dr. Zimmermann. So habe auch er zwar die benötigte Zusatzbezeichnung für die „psychosomatische Grundversorgung“, mittlerweile leite aber auch er seine Patienten aus Regressangst an einen Psychotherapeuten weiter. Im nächsten Jahr sollen die Prüfvereinbarungen in Hessen angepasst werden. „Sinnvoll wäre eine Änderung, sodass ein direkter Vergleich in der Fachgruppe möglich ist. Hierfür wäre es nötig, zum einen Untergruppen in der Fachgruppe zu bilden, zum anderen Leistungen zu gewichten“, rät der Experte.