Wenn Maschinen die elektronische Patientenakte lesen
Mit Beginn des kommenden Jahres haben Patienten einen Rechtsanspruch auf eine elektronische Patientenakte. In den offiziellen Patienteninformationen geht es dabei um Informationsbereitstellung für Ärzte und andere Akteure im Gesundheitswesen. Im „Kleingedruckten“ liest man dann von Bereitstellung der Daten in pseudonymisierter Form „für die Forschung“. Und dann wird noch die „Gesundheitswirtschaft“ erwähnt.
Doch um all die Daten lesen zu wollen, muss der Computer das erst mal können. Dass Großcomputer riesige Datenmengen durchforsten können, weiß man. Arztbriefe bestehen aber nicht nur aus Diagnosen, sondern vor allem aus Text. Computer können aber weder lesen noch im menschlichen Sinne verstehen. Also müssen die Inhalte der Arztbriefe in eine für Computer lesbare Form gebracht werden.
Ein Computer kann keinen freien Text verstehen
Bei schematisierten Diagnosen ist das einfach: Gibt es mehrere Worte für dieselbe Diagnose, wird daraus eine ICD-Nummer. Der Vorderwand-Herzinfarkt heißt dann I21.0G, und zwar auf der ganzen Welt. Bei frei geschriebenem Text ist dieser Vorgang jedoch weit schwieriger. Deswegen gibt es SNOMED-CT, ein hochkomplexes Klassifikationssystem, das freien Text in einen Code, also eine Ziffernfolge, umwandelt, der dem frei geschriebenen Text entspricht und von Computern „verstanden“ und verarbeitet werden kann. Das System soll als semantische Basis für die medizinischen Informationsobjekte (MIO) dienen, die die KBV derzeit als standardisierte Dateneinheiten für die elektronische Patientenakte (ePA) entwickelt. Mittels SNOMED werden in der Telematik-Cloud also aus dem Text der Arztberichte Metadaten generiert, die dann für „Forschung“ oder „Gesundheitswirtschaft“ weiter verwendet werden sollen.
SNOMED-CT
Autor: Isabel Aulehla
Nutzen-Schaden-Abwägung gilt doch auch hier, oder?
Das wichtigste Prinzip in der Medizin ist die Abwägung von Vor- und Nachteilen für den individuellen Patienten. Diese Abwägung muss für jede (!) medizinische Maßnahme erfolgen, und zwar unter der Maxime: Wir dürfen dem Patienten nicht schaden. Dieser Teil der hippokratischen Tradition ist genauso alt wie das Arztgeheimnis und genauso wichtig. Die dauerhafte zentrale Speicherung von Patientendaten ist eine medizinische Maßnahme – allein schon, weil dafür Milliarden Euro an Versichertenbeiträgen verwendet werden, die an anderer Stelle fehlen. Die Minimalforderung wäre also: Zentrale Datenspeicherung und SNOMED-CT muss in Modellprojekten mehr Nutzen als Schaden nachweisen.Crashkandidat, Zeitfresser und Hackermagnet
Dabei ist unsere elektronische Patientenakte längst vorhanden: dezentral in unseren Praxisnetzen. Unser Praxisnetzwerk enthält nach 23 Jahren Praxistätigkeit etwa 80 000 Arztberichte. Wenn diese Arztberichte bei Bedarf über ein sicheres Netz verschlüsselt mit anderen Ärzten ausgetauscht werden könnten, wäre das ein sinnvoller Einsatz von Digitalisierung und würde unseren medizinischen Alltag voranbringen. Was der Arzt in seine dezentrale ePA hineinschreibt, schreibt er selbst. Er weiß, wie er was gemeint hat. Missverständliches oder unglückliche Formulierungen weiß er zu bewerten. Er kann provisorische von endgültigen Aussagen unterscheiden. Er kann abschätzen, welche Bedeutung bestimmte Dinge für den Patienten haben. Entscheidungen werden individuell und gemeinsam getroffen. Das nennt man Arzt-Patient-Beziehung. Die derzeit unter Zwang forcierte Art der zentralisierten Digitalisierung des Gesundheitswesens macht alle Beteiligten abhängig von einem „Master-System“, das nicht nur crash- anfällig ist, nicht nur als Hacker-Magnet wirkt, nicht nur Unmengen an Zeit frisst, sondern auch eine Gefahr darstellt für wissenschaftlich basierte Medizin, da sie Ärzte vom Wesentlichen ablenkt. Eine bessere Alternative wäre dezentral, gemeinwohlorientiert, Open Source und freiwillig für Arzt und Patient. Die Demokratie ist gefragt und damit 73 Millionen gesetzlich versicherte Patientinnen und Patienten. Und inzwischen auch die „Kunden“ der Privatversicherungen. Die PKV wollte zunächst in der Telematik-Infrastruktur nicht dabei sein. Jetzt aber doch – seitdem von den Vorteilen der TI für die Gesundheitswirtschaft geredet wird. Das ist allerdings nur eine Korrelation, keine Kausalität.Gastbeitrag