Patientenbefragung offenbart hausärztliche Fehler bei Diagnostik und Medikation

Niederlassung und Kooperation Autor: Isabel Aulehla

Rund jeder siebte Patient gab an, fehlerhaft behandelt worden zu sein. Rund jeder siebte Patient gab an, fehlerhaft behandelt worden zu sein. © BillionPhotos.com – stock.adobe.com

Bislang werden medizinische Fehler von ­Ärzten oder ihrem Personal gemeldet – wenn überhaupt. Nun ­haben Forscher erstmals Patienten in Deutschland zu ­entsprechenden Erfahrungen befragt. ­Insbesondere Hausärzte können aus der Studie lernen.

Ein Griff in den Kühlschrank, Fertigspritze ausgepackt, ein routiniertes Pieksen – schon ist der Patient geimpft. Dumm nur, wenn dem Mediziner dann auffällt, dass es sich um eine Polio-Vakzine handelte und nicht um den Grippe­impfstoff, den er eigentlich spritzen wollte.

Hausärzte sind nicht vor Fehlern gefeit, sei es bei Impfungen, Diagnose oder Medikation. Wie viele Fehler in ambulanten Praxen passieren, ist schwer zu beziffern: Bislang beruhten Studien vor allem auf den Angaben von Medizinern. Die Methode schwächelt daran, dass Betroffene die Praxis wechseln und Ärzte ihre Fehler folglich nicht bemerken. Daher haben Wissenschaftler der Philipps-Universität Marburg erstmals ermittelt, welche Erfahrungen Patienten in Deutschland mit Behandlungsfehlern gemacht haben.

Fast die Hälfte aller Fehler entfällt auf Hausärzte

Für die Studie wurde eine Zufallsstichprobe von über 10 000 Personen telefonisch zu Ereignissen innerhalb der vorigen zwölf Monate befragt. Alle Probanden waren 40 oder älter. In den Ergebnissen stechen drei Fachgruppen besonders hervor. Rund 14 % der Befragten gaben an, in dem Zeitraum mindestens einmal falsch behandelt worden zu sein. 44 % dieser Ereignisse gehen auf Hausärzte zurück, 15 % auf Orthopäden und 10 % auf Internisten. Die Wissenschaftler erklären dies dadurch, dass Allgemeinmediziner und Internisten öfter konsultiert werden als andere Fachgruppen. Orthopäden können das nicht für sich geltend machen.

Die meisten von Patienten berichteten Probleme (66 %) traten bei Anamnese und Diagnostik auf. Die Probanden bemängelten etwa, dass wichtige Fragen zur Erkrankung nicht gestellt wurden oder die körperliche Untersuchung ungenügend gewesen sei. Am zweithäufigsten war von Fehlern im Bereich der Medikation die Rede (15 % aller Fehler). So wurden offenbar falsche Medikamente verschrieben oder die Wechselwirkung mit anderen Präparaten nicht bedacht. Am dritthäufigsten passierten administrative Versäumnisse, beispielsweise lagen Untersuchungsergebnisse nicht oder nicht vollständig vor.

nach Geraedts M et al. BMJ Open 2020

Insgesamt gaben die Patienten an, dass 75 % der Behandlungsfehler Schäden nach sich zogen. Die meis­ten Betroffenen meinen, unnötig lange unter Schmerzen gelitten zu haben (17 % der Schäden). 5 % der berichteten Folgen bestanden darin, dass eine ernste Erkrankung erst zu spät oder gar nicht entdeckt wurde. Bei jedem zehnten Behandlungsfehler musste der Betroffene stationär behandelt werden. Die Autoren der Studie weisen darauf hin, dass dies neben dem Leid der Patienten auch große Kosten verursacht. Es mag fraglich erscheinen, ob Patienten beurteilen können, ob eine bestimmte Behandlung ausreichend ist oder nicht. Professor Dr. Max Geraedts, Initiator der Studie sowie Leiter des Instituts für Versorgungsforschung und Klinische Epidemiologie der Philipps-Universität Marburg betont jedoch, dass der Studie das sogenannte „Thomas-Theorem“ zugrunde liegt. Demnach haben subjektive Situationsdefinitionen objektive Konsequenzen, egal ob sie einer Objektivierung standhalten. Sprich: Wenn ein Patient davon ausgeht, falsch behandelt worden zu sein, hat das für ihn reale Folgen (etwa weil er einen zweiten Arzt besucht). Dabei spielt es keine Rolle, ob er tatsächlich falsch behandelt wurde. Selbst Patienten, die lediglich beklagten, dass ihnen wichtige Fragen nicht gestellt worden seien, berichteten von ähnlich schädlichen Folgen wie Patienten, deren Medikamente verwechselt wurden. In den Augen von Prof. Geraedts hat die Befragung von Patienten viele Vorteile, da nur sie über den langfristigen Erfolg einer Behandlung Auskunft geben können. Folglich verpasse man eine Chance zum Lernen aus Fehlern, wenn man sie nicht einbeziehe. Auch das Aktionsbündnis Patientensicherheit begrüßt die neue Herangehensweise. Der Verein warnt davor, die Ergebnisse zu skandalisieren: „Dass überall Fehler auftreten, wo Menschen arbeiten, ist normal.“ Es gehe darum, die Ursachen zu finden und zu reduzieren. Die Befragung von Patienten sei von „unschätzbarem Wert“. Aus methodischer Perspektive ist die Patientenbefragung anspruchsvoll. Vor allem eine Verzerrung der Stichprobe kann auftreten. Dies sei einer der Gründe dafür, dass die Methode nur selten genutzt wird, meint Prof. Geraedts. Allerdings geht er davon aus, dass sich dies künftig ändern wird. Innerhalb der Wissenschaft werde gefordert, öfter auf die Befragung von Patienten zu setzen, das Aktionsbündnis Patientensicherheit diskutiere mit dem Deutschen Netzwerk Versorgungsforschung, wie dieser Forderung entsprochen werden könne. Für die Zukunft wünscht sich der Experte eine stärkere Beachtung der Problematik: „Die etablierten Methoden zur Erfassung von Problemen der Patientensicherheit reichen nicht aus.“ Ein echtes Lernen aus Fehlern finde hierzulande zu selten statt – unter anderem, weil Medizinern die Zeit zur Reflexion fehle. Er schlägt vor, Behandlungsfehler stärker in Qualitätszirkeln zu diskutieren. In den USA gehe man davon aus, dass medizinische Fehler die dritthäufigste Todesursache seien. Demnach könne man einen großen Gesundheitsgewinn erzielen, wenn man sich des Themas annehmen würde.

Konstruktiver Umgang mit Kritik der Patienten gefordert

Auch der Arbeitsbereich Patientensicherheit des Frankfurter Instituts für Allgemeinmedizin betont, dass der Umgang mit Fehlern im Gesundheitswesen derzeit ausbaufähig ist. „Jeder Beteiligte muss bereit sein, Feedback und konstruktive Kritik anzunehmen“, meint Dr. Beate Müller, Leiterin des Arbeitsbereichs. Wenn man dies erreiche, könne man Patienten künftig sogar aktiv in die Fehlerprävention einbinden. Ihr Team begrüßt es, wenn Patienten Ärzte und Praxispersonal von sich aus auf Missstände aufmerksam machen. Der Arbeitsbereich betreut das Fehlerberichts- und Lernsystem Jeder Fehler zählt. Es startete vor 15 Jahren als erstes Meldeportal für Hausarztpraxen und wird immer noch genutzt. Jährlich gehen rund 40 Berichte und über 200 Kommentare ein, insgesamt sind fast 700 Berichte online einsehbar. Das Team kritisiert, dass das Thema „Patientensicherheit“ für Medizinstudenten nicht prüfungsrelevant ist, und fordert daher eine Prüfung im Staatsexamen. Für die Goethe-Universität Frankfurt habe der Arbeitsbereich bereits ein Wahlpflichtfach zu Sicherheitskultur und Patientensicherheit konzipiert, das von den Studierenden sehr gut angenommen werde.

Quelle: Geraedts M et al. BMJ Open 2020; 10:e034617; DOI: 10.1136/bmjopen-2019-034617

Medical-Tribune-Bericht

Prof. Dr. Max Geraedts, Leiter des Instituts für Versorgungsforschung und Klinische Epidemiologie der Philipps-­Universität Marburg Prof. Dr. Max Geraedts, Leiter des Instituts für Versorgungsforschung und Klinische Epidemiologie der Philipps-­Universität Marburg © Bostelmann/Wort&Bild-Verlag