Honorarabzug für TI-Verweigerer Honorar und Klage verloren – aber „Kosten und Nerven gespart“

Praxismanagement , Praxis-IT Autor: Dr. Andreas Meißner

Energie- und Chipmangel müssten bei den Plänen zur Umstellung auf die Telematikinfrastruktur (TI) mitkalkuliert werden. Energie- und Chipmangel müssten bei den Plänen zur Umstellung auf die Telematikinfrastruktur (TI) mitkalkuliert werden. © MQ-Illustrations – stock.adobe.com

Wieder hat ein Sozialgericht eine Klage gegen den Honorarabzug bei Nicht-Anschluss an die Telematikinfrastruktur abgewiesen. Der Siegeszug der Digitalisierung um jeden Preis wird sich juristisch schwer aufhalten lassen. Ein kritischer Gastbeitrag.

Vor wenigen Tagen hat das Sozialgericht München eine Klage gegen den Honorarabzug abgewiesen, der bei fehlendem Anschluss an die Telematikinfrastruktur (TI) erfolgt. Da schon andere Sozialgerichte ähnlich entschieden hatten, war die Entscheidung wenig überraschend. Ärgerlich ist sie dennoch. Denn erörtert wurden zwar Fragen der Technik, des Datenschutzes oder der Berufsfreiheit (aus richterlicher Sicht alles unproblematisch) – die grundlegende Frage aber, ob der Zwang zum Anschluss an die TI plausibel begründet wurde, wird sich wohl juristisch nicht klären lassen. Genauso wenig wie auch Fragen des mangelnden Mehrwertes, der Kostenexplosion oder der weiteren Datenverwendung.

Nach der TI und der elektronischen Patientenakte (ePA) jedenfalls hatte aus der Ärzteschaft kaum jemand gerufen. So meinte etwa der KBV-Vorstand 2021, die ePA sei eine Antwort auf Fragen, die keiner gestellt hätte. Auch heute würde eine Umfrage unter den niedergelassenen Ärzten andere, dringlichere Anliegen in den Fokus rücken. Etwa der leere MFA-Stellenmarkt, nicht lieferbare Medikamente, der Mangel an Pflegepersonal, deshalb nicht belegbare Klinikbetten, schlecht erreichbare IT-Hotlines, die Energiepreisexplosion, die seit über 25 Jahren nicht angepasste GOÄ und der Mangel an Ärzten und Psychotherapeuten. Dazu kommen Bürokratie und Terminnöte in den Praxen bei anhaltend hoher Nachfrage von Patientenseite. Dringend zu lösende Probleme im Gesundheitswesen gäbe es genug.

Natürlich wären sichere digitale Kommunikationswege zu Patienten oder zwischen Behandelnden wünschenswert, genauso wie die Möglichkeit, die Praxisakte bei Arztwechsel oder Umzug digital mitgeben zu können. Auch wäre es sinnvoll, wichtige Dokumente wie den Medikationsplan, Notfalldaten, Diagnosen und Vorerkrankungen dezentral auf der elektronischen Gesundheitskarte speichern zu können. Denn das ist heute zwar möglich, soll aber nur vorübergehender Natur sein: Alle Daten sollen ausschließlich in die ePA.

Die aber will kaum jemand, weshalb sie nun von Politik und Wirtschaft ziemlich brachial und top down durchgesetzt werden muss, wie bereits die Telematikinfrastruktur. Die IT-Sicherheitsexpertin und Aktivistin Lilith Wittmann, jung und digitalaffin, twitterte dazu: „Der Staat hat ein Digitalisierungsangebot in Form der ePA gemacht. Wir als Gesellschaft haben durch Nichtnutzung gezeigt, dass es uns nicht interessiert. Wie ist es nun demokratisch vertretbar, uns dieses Angebot per Opt-out aufzuzwingen?“

Bald auch wir Leistungserbringer zum ständigen Befüllen der ePA verpflichtet

Opt-out wird dieses Jahr noch kommen, wieder ein Gesetz mit Zwang. Laut Suzanne Ozegowski, Staatssekretärin am Bundesgesundheitsministerium, soll bei fehlendem Widerspruch jeder Bürger ab Geburt oder bei Zuzug automatisch eine ePA bekommen, zudem werden Leistungserbringer zur Befüllung verpflichtet. Auch soll dann jeder Behandelnde jeden Befund einsehen können. Mit dem feingranulierten Zugriffsmanagement, für das z.B. der Bundesdatenschutzbeauftragte Ulrich Kelber vehement gekämpft hatte, ist es dann vorbei.

Schließlich sollen die Daten bei fehlendem Widerspruch automatisiert aus der ePA weitergeleitet werden ans Forschungsdatenzentrum. Und dies, nach Stand der Dinge, ohne Widerspruchsmöglichkeit und lediglich pseudonymisiert. Forschung aber, so sinnvoll und nötig sie ist, wird sich kaum von gewinnorientierter Privatindustrie trennen lassen, blickt man auf ihre Interessen an Profilbildung, Werbung und Produktverkauf. Dabei droht eine Zunahme an unüberschaubaren Forschungsergebnissen, die für methodische Mängel anfällig sind und noch weniger in die Praxen zurückfließen als heute schon.

Und so wie Politik die Regelungen an den Bedürfnissen der allermeisten Praxen vorbei vorgegeben hat, so werden die Praxen auch nicht von ihnen profitieren. Stattdesen wird die IT-Industrie ein gewaltiges Stück vom Kuchen des Gesundheitswesens bekommen. Etliche Industrieverbände haben bereits Interesse an den ePA-Daten angemeldet. „Die ePA ist im Großen und Ganzen eigentlich ein Datensammeltopf für die Industrie“, hatte Wittmann treffend weiter getwittert.

Und schließlich werden Daten auch in den Europäischen Gesundheitsdatenraum fließen, wofür die EU-Kommission gerade an einer Verordnung bastelt. Auch hierbei wird es Datenlieferpflichten geben. KV-Funktionäre versuchen bereits, hierzu in Brüssel noch das Schlimms­te zu verhindern.

Mit all dem werden unsere wirklichen Probleme aber nicht gelöst. Genauso wenig die Kluft zwischen Arm und Reich, die entscheidenden Einfluss hat auf krank sein oder gesund. Psychische Störungen nehmen zu, dazu Kurzsichtigkeit unter Kindern und Jugendlichen, Bewegungsmangel und Adipositas, all dies nicht zuletzt als Nebenwirkungen der Digitalisierung. Sie trägt zu Konzentrationsstörungen, Depressionen, Empathiemangel und Entfremdung von der Natur wesentlich bei.

Energie- und Chipmangel müssten mitkalkuliert werden

Dazu kommt: Wäre das Internet ein Land, stünde es beim Energieverbrauch heute auf Platz drei im weltweiten Ranking – der Energiebedarf für Digitalisierung hierzulande steigt um neun Prozent jährlich. Ein Mangel an Chips und Lieferkettenprobleme werden ignoriert, auch wenn schon Tausende Gesundheitskarten nicht regulär nach fünf Jahren ersetzt werden konnten.

Aber zurück in die Niederungen von Praxisalltag und Sozialgerichtsbarkeit. Hier ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Das werden das Bundessozial- oder Bundesverfassungsgericht haben. Und auch die Nutzer. Wenn nämlich nicht nur mangelndes Interesse, sondern auch digitale Überforderung und Erschöpfung weiter um sich greifen, wie Studien es bereits beschreiben, erledigt sich manche TI-Sorge von selbst – genauso, wenn technische Anfälligkeit zukünftige Innovationen so „erfolgreich“ werden lässt wie TI, ePA, E-Rezept und eAU.

Tja. Das Geld der Honorarabzüge werden die betroffenen Kolleg:innen vermutlich nicht wiedersehen. Aber dafür haben sie sich anderweitig Zeit, Kosten und Nerven gespart und können vorläufig den sich vollziehenden Irrsinn weiter beobachten – bis höchstinstanzliche Entscheidungen gefällt sind.

Medical-Tribune-Bericht

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