Menschen mit geistiger Behinderung „Wir haben ein systematisches Versorgungsproblem"

Praxismanagement , Patientenmanagement Interview Autor: Isabel Aulehla

Manche Patient:innen lassen sich in ihrer Wohngruppe bereitwilliger behandeln. (Agenturfoto) Manche Patient:innen lassen sich in ihrer Wohngruppe bereitwilliger behandeln. (Agenturfoto) © FG Trade/gettyimages

Viele Praxen nehmen nur ungern Personen mit geistiger Behinderung auf – weil die Vergütung nicht stimmt und die Behandlung für schwierig gehalten wird. Die Hausärztin Dr. Ute Schaaf hat sich spezialisiert. Sie erklärt, wie die Versorgung gelingt.

Wie sieht Ihre Tätigkeit aus?

Dr. Ute Schaaf: Ich bin Hausärztin in Absberg, einer kleinen Gemeinde in Mittelfranken. Wir haben etwa 900 Scheine – das klingt nach wenig, aber darunter sind ca. 200 Personen mit einer geistigen oder mehrfachen Behinderung. Hier im Ort steht eine Einrichtung der Eingliederungshilfe, daher die hohe Zahl. Die Bandbreite der Behinderungen der Bewohner reicht von leichten Intelligenzminderungen bis hin zu komplexen Behinderungen. Da ich diese Menschen seit meiner Praxisübernahme betreue, habe ich mich intensiv zu dem Thema weitergebildet.

Wie gut ist die ambulante Versorgung von Menschen mit geistiger Behinderung?

Dr. Schaaf: Viele Hausärzte betreuen Menschen mit Behinderung sehr engagiert. Dennoch ist die ambulante Versorgung – ebenso wie die stationäre – alles andere als gut. Der behinderungsbedingte Mehraufwand wird bei der Honorierung nicht berücksichtigt. Der von der Politik gewollte Wettbewerb im Gesundheitswesen und die Durchdringung durch renditeorientierte Kapitalgesellschaften führen leider subtil zu einem Wettbewerb um Patienten, bei denen das Honorar leicht erzielt wird – hierzu gehören Menschen mit komplexer Behinderung nicht. 

Es gibt insgesamt kaum Daten darüber, wie die Versorgung derzeit aussieht. Weder in der Forschung noch in der Aus- und Weiterbildung wird das Thema angemessen berücksichtigt. Das ist kein böser Wille – es macht sich offenbar einfach kaum jemand Gedanken darüber.

Manche Ärzte scheuen sich davor, Patienten mit geistiger Behinderung zu behandeln. Warum?

Dr. Schaaf: Das Thema wird, was Erwachsene betrifft, im Studium nicht wirklich angesprochen. Historisch begründet hatten wir in Deutschland lange Zeit keine Erfahrung mit betagten Menschen mit schwerer geistiger Behinderung. Diese Erfahrungslücke hat sich auch auf die Aus- und Weiterbildung ausgewirkt. Unwissenheit macht Unsicherheit. Typische Problemfelder sind: Wie kommuniziere ich mit einem Menschen mit Einschränkung der verbalsprachlichen Fähigkeit? Wie gehe ich mit herausforderndem Verhalten um? Wie finde ich bei Noncompliance zu einer korrekten Diagnose und passenden Therapie? Wie ist die rechtliche Situation? Hinzu kommen fachliche Unsicherheiten mit hochspezifischen Fragestellungen, beispielsweise: Wie gehe ich mit einer chronischen Hüftluxation bei Zerebralparese um? 

Wie erleichtern Sie Ihren Patienten den Besuch?

Dr. Schaaf: Wir vergeben die Termine gerne am Rand der Sprechzeiten, wenn weniger los ist. Die Betreffenden sollten nicht lange im Wartezimmer sitzen, sonst sind sie in der Sprechstunde überdreht. Das Team ist inzwischen routiniert im Umgang. Wir fragen bei Bewerbungsgesprächen gezielt, ob die Bereitschaft besteht, mit Menschen mit Behinderung zu arbeiten. Manchmal kann das schließlich herausfordernd sein, etwa bei distanzvermindertem oder aggressivem Verhalten. Davon abgesehen sind Hausbesuche in der Wohneinrichtung wichtig. Menschen im autistischen Spektrum lassen sich in ihrer vertrauten Umgebung viel eher behandeln als in der Praxis. 

Wie gelingt die Kommunikation mit Patienten mit geistiger Behinderung?

Dr. Schaaf: Es ist entscheidend, direkt mit den Betroffenen zu sprechen und nicht über sie – selbst wenn sie mit professioneller Begleitung kommen. Ich eröffne das Gespräch, indem ich die Person frage, ob sie mir das Problem schildern möchte oder ob das die Begleitung übernimmt. Viele sagen dann zwar, die Begleitung solle das machen, aber so bleiben sie souverän. Um Schritte der Untersuchung oder Erkrankungen zu erklären, helfen Bildtafeln und einfache Sprache. Empfehlenswert ist das Buch „Einfach sprechen über Gesundheit und Krankheit“ von Tanja Sappok, Reinhard Burtscher und Anja Grimmer. Ich schließe den Termin ab, indem ich mich wieder dem Betroffenen zuwende und frage, ob er noch eine Frage hat. Falls ja, antworte ich nochmal auf einem niedrigen sprachlichen Niveau. Die Gespräche dauern etwa doppelt so lang wie bei anderen Patienten – auch, weil oft auch die Begleitperson noch etwas wissen will. Wenn im Nachgang die gesetzliche Vertretung der Patienten noch Gesprächsbedarf hat, ist das sehr aufwändig.

Spezialisierte Zentren im Aufbau

In Medizinischen Zentren für Menschen mit mehrfacher und geistiger Behinderung (MZEB) sollen Patienten behandelt werden, die sonst keine geeignete Versorgung bekommen würden. Die Betreffenden müssen volljährig sein, einen Grad der Behinderung von mindestens 70 aufweisen und eines der folgenden Merkzeichen in ihrem Schwerbehindertenausweis haben: G, aG, H, Bl, Gl. Sie brauchen außerdem eine Überweisung durch einen Haus- oder Facharzt. Das Personal der Einrichtungen – etwa Ärzte, Psychologen und Sozialarbeiter – ist auf die Arbeit mit Menschen mit Behinderung spezialisiert. Die gesetzliche Entscheidung, die Zentren zu gründen, erfolgte 2015 mit dem Versorgungsstärkungsgesetz. Derzeit gibt es bundesweit mehr als 50.

Der Bundesverband der MZEB hat kostenloses Aufklärungsmaterial in leichter Sprache zusammengestellt.

Wie schwer war es für Sie, sich die leichte Sprache anzueignen?

Dr. Schaaf: Die leichte Sprache ist nicht wie Englisch, das man erst lernt und dann anwendet. Es kommt schlicht darauf an, langsam und einfach zu sprechen – das schleift sich mit der Zeit ein. Ein guter Hausarzt beobachtet sein Gegenüber und merkt, ob man ihn versteht oder nicht. Außerdem muss ich meine leichte Ausdrucksweise individuell anpassen: Manche Patienten formulieren Zweiwortsätze, andere haben Lesen und Schreiben gelernt.

Wenn ein Patient eine Behandlung ablehnt, die gesetzliche Vertretung aber dazu auffordert – wer hat dann das letzte Wort?

Dr. Schaaf: Letztlich bin ich diejenige, die die Dringlichkeit einer Behandlung und die Entscheidungsfähigkeit des Patienten abwägen muss. Das führt zu rechtlichen Unsicherheiten. Geht es um eine lebensbedrohliche Situation – etwa um eine gefährliche Entgleisung der Blutwerte –, muss ich handeln. Steht aber beispielsweise nur eine Impfung zur Debatte und die Person lässt sich nicht überzeugen, muss ich davon absehen. Im Studium wird die „partizipative Entscheidungsfindung“ als Ideal vermittelt. Aber was das bedeutet, wenn im Fall von Menschen mit Behinderung mehrere Personen bei der Entscheidung mitreden dürfen, das wird nicht reflektiert. 

Wie erkennen Sie, ob eine Person Schmerzen hat, wenn sie dies selbst nicht artikulieren kann?

Dr. Schaaf: Bei Menschen mit Einschränkungen der verbalsprachlichen Kommunikation ist es wichtig, die Mimik zu beobachten und den Muskeltonus zu ertasten. Ist eine Person gefallen und ich möchte wissen, ob sie sich etwas gebrochen hat, taste ich sie ab und beobachte das Gesicht. Wenn sich immer an der gleichen Stelle die Mimik verzieht und sich die Muskeln anspannen, habe ich die Verletzung gefunden. Schmerzen lassen sich außerdem anhand der „Faces Pain Scale“ abfragen. Dabei stehen Smileys mit verschiedenen Gesichtsausdrücken zur Auswahl. In der Arbeit mit Menschen mit geistiger oder komplexer Behinderung ist grundsätzlich oft Improvisation gefragt. 

Wohin können Ärzte entsprechende Personen vermitteln, wenn sie selbst nicht weiterwissen?

Dr. Schaaf: Hier ist die lokale Netzwerkarbeit entscheidend. Nach einiger Zeit weiß man, welche Kollegen sich zu welchen Themen eine Expertise erarbeitet haben – zum Beispiel, welche neurologische Praxis sich gut mit schwer therapierbaren Epilepsien auskennt und welche Internisten gut mit Menschen mit Behinderung umgehen. Allerdings bestehen bei einer Reihe von Themen Lücken in der Versorgung. Ich fühle mich da schon oft hilflos.

Ein Problem, das ich leider immer wieder erlebe, ist das des „nicht krankenhausfähigen Patienten“: Ich will bei einer Person den Verdacht auf ein organisches Problem abklären lassen, wobei eine Weglauftendenz und ein herausforderndes Verhalten – eventuell mit Fremdaggression – bestehen. In somatischen Abteilungen der Krankenhäuser bekomme ich immer wieder zu hören, dass „so ein Patient“ auf „unserer“ Station nicht führbar sei und man sich an eine psychia­trische Station wenden soll. In der Psychiatrie verweist man zurecht auf fehlende Möglichkeiten der organischen Abklärung. Wenn ich dieses Thema bei Verantwortlichen im Gesundheitswesen anspreche, signalisiert man mir, dass dies Einzelfälle seien, für die man individuelle Lösungen finden müsse. Ich bin aber – auch aus Gesprächen mit Kollegen heraus – der Überzeugung, dass ich nicht die Einzige bin, die hier ein systematisches Versorgungsproblem feststellt. 

Seit 2015 werden spezielle medizinische Zentren für Erwachsene mit Behinderung gegründet. Sie sind eine Bereicherung, können derzeit aber nur die Spitze des Eisbergs versorgen. 

Welche Möglichkeiten gibt es, sich weiterzubilden?

Dr. Schaaf: Es gibt ein sehr gutes Curriculum der Bundesärztekammer, das von engagierten Kollegen der Deutschen Gesellschaft für Medizin für Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung (DGMGB) entwickelt wurde. Es umfasst allerdings 50 theoretische und 50 praktische Unterrichtseinheiten und dürfte manchem Arzt zu zeitintensiv sein. Wir sind in der AG „Inklusive Medizin“ des Bay­erischen Hausärzteverbands gerade dabei, kürzere Abendfortbildungen zu entwickeln. Wie bereits erwähnt, finden Kollegen, die viele Menschen mit Behinderung versorgen, immer wieder neue Wege zum Umgang mit schwierigen Problemen. Diese Erfahrungen sollten gesammelt, wissenschaftlich hinterfragt und dann als Wissen in die Breite gebracht werden.

Medical-Tribune-Interview