Ansteckende Essstörung: In Gruppentherapien beeinflussen sich Patienten nicht nur positiv

Autor: Friederike Klein

Die Gefahr der sozialen Ansteckung wird häufig ignoriert oder nicht wahrgenommen. (Agenturfoto) Die Gefahr der sozialen Ansteckung wird häufig ignoriert oder nicht wahrgenommen. (Agenturfoto) © Photographee.eu – stock.adobe.com

Die Idee hinter einer Gruppentherapie klingt überzeugend: Die Patient(inn)en sollen sich gegenseitig unterstützen. Was häufig vergessen wird, ist die Gefahr der sozialen Ansteckung. Sie droht vor allem Essgestörten.

Webforen wie „Pro-Ana“ zeigen, dass das Zusammentreffen von Essgestörten zu einer kollektiven Identität führen kann. Auf der Plattform nehmen sich die meist jungen Frauen gegenseitig zum Vorbild, geben sich Abnehmtipps und versinken so noch tiefer in ihrer Anorexie.

Die Gefahr dieser sozialen Ansteckung besteht auch in einer Gruppen- bzw. stationären Therapie, wo sie häufig ignoriert oder nicht wahrgenommen wird, berichtete Professor Dr. Eva­ Wunderer­ von der Hochschule Landshut. Patient(inn)en orientieren sich an einem extrem untergewichtigem Gruppenmitglied, statt an denjenigen, die bereits auf dem Weg raus aus der Störung sind. Manchmal wird ein Wettbewerb um Magerkeit initiiert.

Studien in stationären Einrichtungen und Wohngruppen mit essgestörten Patientinnen belegten, dass diese durchaus Verständnis für einander haben und sich gegenseitig unterstützen. Es wurden aber auch Wetteifern und Negativspiralen dokumentiert. Isst z.B. die eine nicht auf, tun es ihr andere häufig nach. Kommen neue Patientinnen, die sich noch stark aufs Essen fixieren und hauptsächlich mit Kalorien und Nahrungsmittel beschäftigen, zur Gruppe dazu, kann das „Etablierte“, die schon weiter sind, wieder zurückwerfen.

Besser „alte“ von neuen Patientinnen trennen?

Unangemessenes Verhalten bei Tisch oder Symptome werden übernommen und Tricks ausgetauscht, führte Prof. Wunderer aus. Dabei entsteht Konkurrenz um das niedrigste Gewicht, um die Therapiewürdigkeit oder um Vorzüge in der Behandlung.

Es existieren sowohl soziale Unterstützung als auch soziale Ansteckung, betonte die Psychologin. Um die Ansteckung durch stärker Betroffene zu vermindern, bietet es sich an, Gruppen von Patientinnen mit gleichem Erkrankungsgrad und gleicher Motivation zu bilden. Das widerspricht zwar dem Gedanken der sozialen Unterstützung als essenziellem Element einer Gruppentherapie, könnte aber bei bestimmten Freizeitangeboten Sinn machen.

Wetteifern direkt aufs Tapet bringen

In der Gruppe sollte das Thema soziale Ansteckung als wiederkehrendes Phänomen bewusst reflektiert und ein Wetteifern direkt angesprochen werden, forderte Prof. Wunderer. Sie empfahl, bereits im Vorfeld darüber zu sprechen, wie man sich von einem solchen Wettbewerb abgrenzen und trotzdem im Gespräch bleiben kann. Zum Beispiel, indem die Motivation in Richtung einer „Konkurrenz um Genesung“ gestärkt, eine „Recovery Identity“ aufgebaut wird.

Auch hielt die Referentin es für sinnvoll, konstruktive Freundschaftsbeziehungen zu stärken. Wird ein Patensystem aufgebaut, müssen Ärzte und Therapeuten die Paten gut unterstützen. Ihrer Erfahrung nach besteht häufig die Gefahr, dass diese die Verantwortung zu ernst nehmen und sich als vermeintliche Ko-Therapeuten überfordern.

Personen- und Küchenwaagen verbannen

Ob im klinischen Bereich gemischte Stationen günstiger sind als reine Essstörungsgruppen, wird unterschiedlich beurteilt. Für nicht essgestörte Patienten könnte es eine erhebliche Belastung darstellen, wenn Essen stets problematisiert wird.

Die Referentin riet dazu, das Thema Essen möglichst zu vermeiden und bei Tisch andere Gespräche anzustoßen. Es sollten keine Kalorienangaben gemacht und weder Personen- noch Küchenwaagen in der Einrichtung aufgestellt werden. Wird gebacken oder gekocht, lassen sich die Zutaten auch in Löffeleinheiten „abmessen“, was natürlich mit den Ernährungsberatern abzustimmen ist.

Kongressbericht: 20. Inter­disziplinärer Kongress für Suchtmedizin