Essverhalten bei Diabetes Riskante Kombi aus gestörtem Körperschema und strikten Ernährungsregeln
Viele Verhaltensweisen, die bei stoffwechselgesunden Personen als mögliche Vorboten einer Essstörung gelten, sind bei einem Diabetes nur schwer zu vermeiden, sagte Dr. Andrea Benecke von der Universitätsklinik Mainz. Dazu gehören bei Typ-1-Diabetes z.B. ein schlechtes Gewissen nach „Naschen“ oder ungesundem Essen, die Ritualisierung des Essens, die ständige Berechnung von Kohlenhydraten, permanentes Bereithalten von kohlenhydrathaltigen Lebensmitteln für den Fall von Hypoglykämien, gezügeltes oder kontrolliertes Essen und das Aushalten von Hungergefühlen. „Kommt dann noch eine Unzufriedenheit mit dem eigenen Gewicht und Körperschema dazu, ist das Risiko für ein gestörtes Essverhalten hoch“, so Dr. Benecke.
„Insulin-Purging ist im Grunde eine Form von Bulimia nervosa“
Auf das Problem des Insulin-Purging (IP) ging Dr. Ute Engelbach vom Universitätsklinikum Frankfurt ein. Darunter versteht man das bewusste Weglassen von Insulindosen zum Erreichen eines Gewichtsverlustes. „Im Grunde ist das eine Form der Bulimia nervosa, nur dass statt Erbrechen und Laxanzien das Insulin zur Gewichtsabnahme eingesetzt wird.“ Die Prävalenz dieser „Diabulimie“ ist vor allem bei Frauen und Mädchen mit Typ-1-Diabetes deutlich erhöht.
Auslösend für Gewichtsphobie und Körperschemastörung kann die oft nach Beginn der Insulintherapie beobachtete Gewichtszunahme sein, verstärkt möglicherweise durch hypoglykämiebedingte Heißhungerattacken. Schnell finden die Betroffenen dann heraus, dass sich durch Drehen an der Insulinschraube das Gewicht reduzieren lässt. Zusätzliche Risikofaktoren sind ein höherer BMI, niedriges vermindertes Selbstwertgefühl und Depressionen. Für ihr Schlankheitsideal gehen die Patient*innen mit Diabulimie ein hohes Risiko ein: Die Rate an Ketoazidosen und Krankenhausaufenthalten sowie die Mortalität sind deutlich erhöht. Es treten auch mehr Diabeteskomplikationen wie Nephropathie und Fußprobleme auf.
Die Erfolgsaussichten sind am besten, wenn die Therapie der Essstörung möglichst früh einsetzt. Bei hohem HbA1c-Wert, Ketoazidosen und Gewichtsschwankungen sollte die Problematik offen angesprochen werden, z.B. indem man nach der Zufriedenheit mit dem Gewicht fragt. Stationäre Therapien mit multimodalem Ansatz versprechen am ehesten Erfolg. Oft ist die Verleugnung des Problems aber groß und die Motivation entsprechend niedrig, so die Erfahrung der Therapeutin. Eine reine Psychoedukation reicht daher meist nicht aus.
Auch nach Diagnose eines Typ-2-Diabetes können die zahlreichen Ernährungsempfehlungen zur Entwicklung eines gestörten Essverhaltens beitragen. „Eine Binge-Eating-Störung (BES) findet man allerdings oft schon lange vor Manifestation der Stoffwechselstörung“, erklärte Diplompsychologin Susanne Baulig vom Universitätsklinikum Mainz. Häufiger sind Jüngere mit Typ-2-Diabetes betroffen, deren HbA1c-Wert anfangs lange noch normal sein kann.
Fasten, Hunger, Frust, Essanfall – ein Teufelskreislauf
Betroffene geraten in einen Teufelskreis, der seinen Ausgangspunkt beim Verzehr „verbotener“ Nahrung hat. Es folgen Schuldgefühle und Essanfälle mit dem Gedanken: „Jetzt ist eh alles egal.“ Dabei nehmen sie oft große Mengen kohlenhydrat- und fettreicher Nahrungsmittel zu sich – massive Blutzuckeranstiege und ein erhöhtes Risiko für Folgeerkrankungen sind das Resultat. Danach folgen wieder Diäten, Fasten, Hunger und Frustration, bis der nächste Verlust an Selbstkontrolle zu erneuten Essattacken führt. Auch die BES sollte möglichst früh erkannt und adäquat psychotherapeutisch behandelt werden. Dadurch lässt sich neben der Stoffwechsellage auch die Lebensqualität der Betroffenen positiv beeinflussen.
Quelle: Diabetes Herbsttagung 2021