Psychiatrische Begleiterkrankungen Mit Migräne tickt man anders
Es ist ein Bild, das sich über Jahrzehnte hinweg als Stereotyp durch Filme und Romane zog: Die Migränepatientin liegt mit schöner Regelmäßigkeit bei zugezogenen Vorhängen leidend im Bett. Zwanghaft und leistungsorientiert sind diese Menschen, so das Klischee, dazu rigide im Verhalten, ängstlich und unsicher. Ähnlich übersichtlich fassten auch Psychologie und Medizin die Betroffenen lange Zeit unter dem Begriff des Typus migraenicus zusammen, dem eine starre, festgelegte und bereits prämorbid ausgeformte Persönlichkeit zugrunde liegt.
Oft gepaart mit Depression oder Angststörungen
Doch Untersuchungen der letzten Jahre zeigen: Die eine, und nur die eine Migränepersönlichkeit gibt es nicht. Zu vielfältig sind die Hintergründe und Zusammenhänge der Erkrankung, zu schwach die wissenschaftlichen Belege für einen einzigen zugrunde liegenden Typus. Und trotzdem: Gewisse Verhaltens- und Persönlichkeitsmerkmale treten bei Menschen mit Migräne tatsächlich gehäuft auf, und regelhaft finden sich auch bestimmte psychiatrische Komorbiditäten wie Depression und Angststörungen, schreiben Prof. Dr. Dr. Stefan Evers von der Klinik für Neurologie am Krankenhaus Lindenbrunn in Coppenbrügge und Kollegen.
Ging man früher davon aus, dass das Wesen eines Menschen weitgehend determiniert und nur wenig durch Erziehung oder Umwelteinflüsse beeinflussbar ist, hält man heute die individuelle Persönlichkeit für wandelbar. Auch vor diesem Hintergrund scheint das Bild der festgelegten Migränepersönlichkeit überholt.
Gleichzeitig teilen die Betroffenen aber auffallende Gemeinsamkeiten, so die Autoren. Augenfällig etwa sei ein unspezifisch erhöhter Wert für Neurotizismus – was womöglich durch die Schmerzen hervorgerufen wird. Hinzu kommt: Kognitive Reize können nicht so gut verarbeitet werden wie bei Menschen ohne Migräneneigung. Angsterkrankungen, etwa als zwanghafte Furcht vor Kopfschmerzen, und Depressionen, aber auch bipolare Erkrankungen und posttraumatische Belastungsstörungen kommen bei Migränepatienten häufiger vor als im Durchschnitt der Bevölkerung. Da die neurologische Erkrankung die Lebensqualität mitunter ganz erheblich beeinträchtigt, ist in dieser Sache die Frage nach Ursache und Wirkung aber nur schwer zu beantworten.
Ein häufiger Trigger ist emotionaler Stress
Die Verfasser der Übersichtsarbeit verweisen darauf, dass eine Migränetherapie stets multidisziplinär erfolgen sollte. Dabei gelte es, die psychiatrischen Komorbiditäten so früh wie möglich zu berücksichtigen und offen mit dem Patienten zu diskutieren. Die Behandlung, bei der die Besserung der Lebensqualität im Vordergrund steht, erfordert daher neben der primären Migränetherapie auch den Blick auf eventuelle Begleiterkrankungen wie Depression, Angststörungen und Sozialphobien. Auch der Umgang mit emotionalem Stress, einem häufigen Migränetrigger, muss besprochen werden.
Tipps zur Behandlungsstrategie und Gesprächsführung
- Vertrauen schaffen mit offenen Fragen, nicht kritisch auf Vorbehandlungen eingehen
- Grundzüge der Pathophysiologie und kognitive Besonderheiten erläutern
- Unterschiede zwischen Akuttherapie und Prophylaxe aufzeigen
- nach Schlafstörungen und Stressbelastung fragen
- über Komorbiditäten aufklären, zugleich eigene Grenzen bei der Behandlung der Begleiterkrankungen anerkennen
- Patienten zu weiteren Therapien ermutigen
- apparative Diagnostik sehr zurückhaltend einsetzen
- digitale Gesundheitsanwendungen in die Behandlung einbeziehen
Bei Patienten mit Depressionen und Migräne können Antidepressiva wie Venlafaxin und Amitriptylin von Nutzen sein. Die beiden Substanzen weisen die beste Evidenz in der Behandlung dieser Patientengruppe auf. Wird im Zuge der Behandlung von Migränepatienten mit Depressionen deutlich, dass die eigenen fachlichen Grenzen erreicht sind, gilt es, an die Kollegen in der Psychiatrie zu verweisen. Da für den Akutfall kaum psychotherapeutische Behandlungsplätze bereitstehen, sollten zur Überbrückung von Wartezeiten Selbsthilfeangebote genutzt werden.
Das Führen eines Kopfschmerztagebuchs erscheint den Experten nur dann zweckmäßig, wenn damit ein klares Ziel verbunden ist. Stattdessen regen sie ein Positiv-Tagebuch an, in dem nur schmerzfreie Zeiträume dokumentiert werden. Aus verhaltenstherapeutischer Sicht sei dies sinnvoller, insbesondere bei Patienten, die sowieso täglich oder nahezu täglich unter den Kopfschmerzen leiden.
Quelle: Evers S et al. Nervenheilkunde 2022; 41: 42-52; DOI: 10.1055/a-1687-9822