Individuelles Fallrisiko Stürze strukturiert verhindern
Ein Drittel der Schweizer Bevölkerung ab 80 Jahren, die im eigenen Haushalt lebt, stürzt mindestens einmal im Jahr. Bei den über 65-Jährigen fällt immerhin ein Viertel regelmäßig hin, berichtet Prof. Dr. Christophe Büla vom Centre Hospitalier Universitaire Vaudois in Lausanne. Nicht immer geht ein Sturz mit Hämatomen oder Prellungen glimpflich aus: Jeder zehnte Fall führt zu schweren Verletzungen. 2–3 % davon sind Hüftfrakturen. Auch ohne Knochenbruch sind Stürze bei Senioren ein Risikofaktor für Ängste, Funktionseinschränkungen und ein häufiger Grund für den Beginn der Pflegebedürftigkeit.
Zur Sturzprophylaxe bei älteren Patienten empfiehlt eine internationale Arbeitsgruppe in ihrer Leitlinie* ein zweistufiges Vorgehen. Zunächst wird der Ist-Zustand mithilfe von einer oder drei Schlüsselfragen erfasst (s. Kasten unten). Dies sollte Prof. Büla zufolge mindestens jährlich im Rahmen von ärztlichen Routineuntersuchungen erfolgen.
Wer schon mal gestürzt ist, hat ein höheres Risiko
Stellt sich der Patient bereits aufgrund einer Sturzverletzung vor oder berichtet er in der Anamnese von einem schweren Sturz, ist von einem hohen Rezidivrisiko auszugehen. Als schwer gelten Ereignisse, wenn die Situation mindestens eines der folgenden Kriterien erfüllt:
- Verletzung durch den Sturz
- mehr als zwei Stürze in den letzten zwölf Monaten
- Gebrechlichkeit (Wert ≥ 4 auf der Clinical Frailty Scale)
- kein selbstständiges Aufstehen möglich
- Bewusstseinsverlust, Verdacht auf Synkope
Wie hoch ist das Sturzrisiko?
Die routinemäßige Anamnese erfolgt meist in Form einer einzelnen Frage:
- Sind Sie in den letzten zwölf Monaten gestürzt?
Alternativ kann man den Patienten auch drei Fragen stellen:
- Sind Sie im vorangegangenen Jahr gestürzt?
- Fühlen Sie sich bisweilen beim Gehen nicht stabil?
- Haben Sie Angst davor, zu stürzen?
Beide Varianten sind prinzipiell geeignet, wobei die drei Schlüsselfragen mit 69 % allgemein eine höhere Sensitivität zur Vorhersage von Stürzen aufweisen als die Einzelfrage (45 %). Bei letzterer ist jedoch die Spezifität höher (83 % vs. 58 %).
Liegt keines der Kriterien vor, sollten als nächstes die Gehfunktion und das Gleichgewicht eingeschätzt werden. Liegt die Gehgeschwindigkeit unter 0,8 m/s – werden also für 4 m Strecke mehr als 5 s benötigt – oder braucht die Person für den Timed-up-and-go-Test (TUG) mehr als 15 s, entspricht dies einer mittleren Sturzgefahr.
Eine von vier Personen mit geringem Risiko fällt dennoch
Gibt es keine Hinweise auf einen schweren Sturz und zeigt der Patient keine Einschränkungen in der Gehfunktion und beim Gleichgewicht, wird das Risiko als gering eingestuft – das entspricht aber immerhin noch einer Sturzwahrscheinlichkeit von 20 bis 30 % innerhalb eines Jahres, warnt Prof. Büla.
Faktoren, die mit einer erhöhten Sturzgefahr verbunden sind (Auswahl) | ||
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Intrinsische Faktoren | Extrinsische Faktoren | Situationsbezogene Faktoren |
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Auf der zweiten Stufe folgen die Interventionen. Ihre Ziele unterscheiden sich je nach Sturzrisiko: Patienten mit geringem Risiko brauchen eine allgemeine Aufklärung über Prävention und die Bedeutung körperlicher Aktivität (Primärprophylaxe). Nach einem Jahr erfolgt eine erneute Bewertung.
Bei mittlerer Gefährdung sollten Senioren individuell oder im Rahmen einer Physiotherapie spezielle Übungsprogramme zur Muskelstärkung und zum Trainieren von Gleichgewicht und Gehfunktion absolvieren. Damit lässt sich die Zahl der Stürze um 23 %, die der Frakturen um 27 % senken, so Prof. Büla. Auch in dieser Risikogruppe fordert die Leitlinie dazu auf, das Sturzrisiko nach einem Jahr neu zu ermitteln.
Etwas umfangreichere Interventionen werden erforderlich, wenn sich bei der klinischen Routineuntersuchung ein hohes Sturzrisiko abzeichnet. Die Grundlage bildet in diesem Fall eine strukturierte Bewertung intrinsischer, extrinsischer und situationsbezogener Faktoren, die nachweislich mit einem erhöhten Sturzrisiko einhergehen (siehe Kasten oben). Dabei gilt: Je mehr dieser Faktoren vorliegen, umso größer die Gefahr.
Auf die Beurteilung folgen individuell zugeschnittene Interventionen, in die im Idealfall ein multidisziplinäres Team aus Medizinern, Pflegekräften, Physio- und Ergotherapeuten sowie weiterem Fachpersonal eingebunden ist. Mit einem strukturierten Vorgehen lassen sich die Zahl der betroffenen Patienten um bis zu 30 % und die Zahl der Stürze um bis zu 40 % verringern, betont Prof. Büla.
Als besonders wirksame Interventionen haben sich regelmäßige Bewegung, die Anpassung der Medikation sowie die Optimierung von Schuhwerk, Gehhilfe(n) und Wohnungseinrichtung erwiesen. Auch die Behandlung von Komorbiditäten spielt eine zentrale Rolle – seien es somatische Krankheiten oder eine starke Angst vor Stürzen, die zu einer verminderten Aktivität beitragen. Im Detail lassen sich die möglichen Interventionen inklusive der derzeit dafür vorliegenden Evidenz der Leitlinie (Stand 2022) entnehmen. Bei älteren Personen mit hoher Sturzgefahr sollte die Neubeurteilung des Risikos alle ein bis drei Monate erfolgen.
* Montero-Odasso M et al. Age Ageing 2022; 51: 1-36; doi: 10.1093/ageing/afac205
Quelle: Büla CJ. Swiss Med Forum 2023; 23: 1031-1033; DOI: 10.4414/smf.2023.09347