Coronaimpfung von Jugendlichen – medizinisch vertretbar oder nur Wahlkampf?

Gesundheitspolitik Autor: Isabel Aulehla

Kritiker nennen die Aufhebung der Priorisierung einen „PR-Gag“, solange der nötige Impfstoff fehlt. Kritiker nennen die Aufhebung der Priorisierung einen „PR-Gag“, solange der nötige Impfstoff fehlt. © iStock/valentinrussanov, Lidiia Moor

Jens Spahns Pläne, Jugendliche ab 12 ­Jahre auch ohne STIKO-Empfehlung gegen ­COVID-19 ­zu impfen, haben einige ärztliche Funktionäre empört. Sie warnen vor den gesellschaftlichen ­Folgen des Manövers und raten, vorerst nur chronisch ­kranke Kinder zu immunisieren. Doch die ­Meinungen unter Hausärzten sind geteilt.

Bereits Ende Mai, im Vorfeld des Impfgipfels, verkündete Bundesgesundheitsminister Spahn eine vermeintlich frohe politische Botschaft: Wenn das Vakzin von Bio­NTech/Pfizer von der europäischen Arzneimittelbehörde für Jugendliche zwischen 12 und 15 Jahren zugelassen werde, mache die Regierung dieser Altersgruppe ein Impfangebot. Von einer allgemeinen Empfehlung der Ständigen Impfkommission (STIKO) wollte der Minister dies jedoch nicht abhängig machen.

Vertrauen in unabhängige Kommission wird verspielt

Aus der Ärzteschaft hagelt es Kritik: Nach Meinung der ­DEGAM untergräbt das Vorgehen Spahns das Vertrauen der Menschen in die STIKO. Der Sinn einer unabhängigen Empfehlung werde noch vor deren Veröffentlichung infrage gestellt, heißt es in einer Pressemitteilung. Zwar sei es formal korrekt, dass jeder zugelassene Impfstoff auch verwendet werden dürfe. Doch die Impfung ohne STIKO-Empfehlung widerspreche der etablierten Praxis. „Den gezielten Impf-Empfehlungen der STIKO für Deutschland liegt ein ganz anderer Schwerpunkt zugrunde als der pharmazeutischen Prüfung eines Impfstoffs für die Zulassung auf dem gesamten europäischen Markt“, erklärt Professor Dr. ­Martin Scherer, Präsident der Fachgesellschaft.

Auch Frank Dastych, Vorstandsvorsitzender der KV Hessen, äußert sich kritisch: „Herr Spahn überschreitet hier ganz klar eine rote Linie. Es ist Aufgabe der Ärzte, nach medizinischen, evidenzgesicherten Kriterien, Handlungsempfehlungen für die Patienten auszusprechen. Politiker entscheiden ja auch nicht, welche Patienten ein künstliches Hüftgelenk bekommen. Sie können nur regulatorische Rahmenbedingungen schaffen. Die Entscheidung beim Impfen der Kinder liegt beim Arzt, den Eltern und dem Impfling.“

Der KV-Chef empfiehlt Medizinern, Jugendliche ab 12 Jahre vorerst nur zu immunisieren, falls eine medizinische Indikation besteht. „Etwa bei chronischen Herz­erkrankungen, Mukoviszidose oder Muskeldystrophien.“ Gemäß Corona-Impfverordnung sollten chronisch kranke Jugendliche nun schnell geimpft werden, erklärt der KV-Vorsitzende.

Die Aufhebung der gesetzlichen Reihenfolge zum 7. Juni sei lediglich ein „PR-Gag“, solange der Impfstoff noch fehle. Er fordert, Kinder- und Jugendärzte mit ausreichend ­BioNTech-Vakzin zu beliefern. „Wenn wir nicht mal für Kinder mit Mukoviszidose oder einer Muskeldystrophie Impfstoffe prioritär bereitstellen, dann frage ich mich wirklich, in was für einem Land wir leben.“

Eine medizinische Notwendigkeit, die breite Masse der gesunden Kinder zu impfen, zeichne sich derzeit nicht ab, meint Dastych. Das Risiko schwerer COVID-19-Verläufe in dieser Altersgruppe sei zu gering, um eine Immunisierung um jeden Preis durchzuführen.

„Mittlerweile tun wir so, als seien die mRNA-Impfstoffe so harmlos wie Gummibärchen. Aber die Nebenwirkungen von AstraZeneca haben sich auch nicht in den Zulassungs­studien gezeigt, sondern erst, als die Zahl der Impfungen in die Hunderttausende ging“, gibt der KV-Vorsitzende zu bedenken. „Meiner Meinung nach hat die ­STIKO im letzten Moment die Kurve gekriegt. Wir brauchen erst Studien mit mehr Probanden und auch Langzeitdaten über zwei, drei Jahre.“

Der Allgemeinmediziner Dr. Marc Hanefeld aus Bremervörde mahnt ebenfalls zur Vorsicht: „Aktuelle Daten aus Israel legen nahe, dass mRNA-Vakzine gerade bei männlichen jungen Menschen gehäuft Myokarditiden verursachen könnten.“ Sobald die Impfung der Jugendlichen aber sinnvoll sei, sollte die Kampagne mit intensiven Studien begleitet werden, meint der Arzt. „Dafür wären z.B. einmal mehr Register zu fordern, um die Datenbasis zu verbessern.“

Auch der Bundesverband der Kinder- und Jugendärzte spricht sich dafür aus, die Heranwachsenden nur bei Vorliegen einer entsprechenden STIKO-Empfehlung zu impfen. Die Haftung dafür solle der Staat übernehmen. Zudem dürfe der Zugang zu Bildung, Sport und sozialen Kontakten nicht vom Impfstatus abhängig gemacht werden. Dr. Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer, warnte davor, politischen oder gesellschaftlichen Druck auf Eltern auszuüben, ihre Kinder impfen zu lassen.

Trotz aller Stellungnahmen der ärztlichen Funktionäre müssen Mediziner in ihren Praxen letztlich selbst entscheiden, wie sie vorgehen, wenn Eltern die Impfung ihrer Kinder wünschen. Eine STIKO-Empfeh­lung will dabei nicht jeder zum Maß aller Dinge machen: Die Kommission habe bis heute nicht gelernt, in den Pandemie-Modus umzuschalten, kritisiert der bayerische Hausarzt Dr. ­Christian Kröner. „Die USA haben schon über 2,3 Millionen Personen zwischen 12 und 15 geimpft, ohne das relevante Ereignisse aufgetreten sind“, argumentiert er. „Ich halte die Langzeitfolgen durch Long COVID, welche medizinisch bisher schlecht erfasst sind, für gravierender als ein potenzielles Impfrisiko, besonders mit dem BioNTech-Impfstoff, mit dem wir inzwischen viel Erfahrung haben.“

Absolute Sicherheit kann ­ es nicht geben

Der Hausarzt verweist auf die Worte des WHO-Verantwortlichen für das „Health Emergencies Programme“, Michael Ryan: „If you have to be right before you move, you will never win.“

Auch Hausärztin Dr. ­Cornelia Werner aus dem baden-württembergischen Erbach sieht starke Gründe für die schnelle Immunisierung der Jugendlichen: „Ich halte weder die Impfung noch COVID-19 für ‚Smarties‘. Was ich allerdings sehe ist, dass wir einen bisher bei vielen Millionen sehr sicher und verträglich eingesetzten Impfstoff und als Alternative nur die Infektion mit SARS-CoV-2 haben. Und diese hat nachweislich auch bei Kindern teils schwere Folgen. Ja, es sind weniger. Aber sie sind unbestreitbar da und die Möglichkeit von Folgeerkrankungen, die wir erst noch feststellen werden, ist sehr hoch.“

Würde man eine Strategie der Niedriginzidenz verfolgen, wäre auch sie geneigt, es mit der Impfung der Kinder langsamer angehen zu lassen, erklärt die Ärztin. „Aber leider haben wir die nicht. Denn die Schutzmaßnahmen fallen und die Altersgruppe mit der höchsten Inzidenz ist nun die Gruppe der Kinder. Zudem sind mit der Mutante Delta VOCs unterwegs, die verstärkt auch Kinder betreffen, wie man in Großbritannien beobachten kann.“

Warte man mehrere Jahre auf eine allgemeine Empfehlung, lasse man nicht nur Infektionen bei Kindern zu, sondern erhalte auch Inzidenz und Mutationsdruck aufrecht. Dies sei ein „epidemiologischer Fehler“. Darüber hinaus sei es auch für die Normalisierung des sozialen Zusammenlebens von Kindern wichtig, ihnen dieses wieder ohne Infektionsgefahr zu ermöglichen.

„Mir kommt die Empfehlung, Kinder nicht breit zu impfen, eher als Wahlkampfentscheidung vor als eine Empfehlung zur Impfung an sich. Denn unbestreitbar haben wir einen Impfstoffmangel. Und das Wahlvolk möchte geimpft werden,“ gibt Dr. Werner zu bedenken.

Medical-Trbune-Bericht