Radikaler Lockdown, dann Lockerungen – Wechsel der Coronastrategie gefordert
Der Schlingerkurs der Politik verlängert die Coronapandemie, statt sie zu beenden und kostet Tausenden das Leben – so lautet der Vorwurf der Initiative „ZeroCovid“ an die Regierung. Politische Maßnahmen wie die diskutierte „Bundesnotbremse“ gehen den Vertretern der Bewegung nicht annähernd weit genug. Sie fordern, die Infektionszahlen durch einen europaweiten, gesamtgesellschaftlichen Lockdown auf nahezu Null zu reduzieren. Über 110.000 Personen haben die Online-Petition seit Januar unterschrieben, viele von ihnen stammen aus dem Gesundheitsbereich oder der Wissenschaft. Auch der Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte (vdää) unterstützt ZeroCovid.
Das Konzept der Bewegung mutet utopisch an und wird in der Öffentlichkeit als eine mehrwöchige, bezahlte Pause für alle aufgefasst. „Fabriken, Büros, Betriebe, Baustellen, Schulen müssen geschlossen und die Arbeitspflicht muss ausgesetzt werden“, fordern die Initiatoren. Sie kritisieren, derzeit würde vor allem die Freizeit stark eingeschränkt, während das Arbeitsleben von vielen Maßnahmen ausgenommen bleibe. Um dies zu ändern, müsse die Wirtschaft pausieren und auch die Zahl der privaten Kontakte minimiert werden. Um zu verhindern, dass das Virus währenddessen zwischen den Ländern hin- und hergetragen werde, müssten alle europäischen Staaten gleichzeitig in einen harten Lockdown eintreten.
Mehrere Wochen bezahlte Pause von der Arbeit
Trotz der Erwerbspause sollen Beschäftigte finanziell abgesichert sein. ZeroCovid fordert daher ein „umfassendes Rettungspaket für alle“. Europa habe prinzipiell genug Geld, um dies zu stemmen, allerdings hätten sich einige wenige diesen Reichtum angeeignet. Die präferierte Lösung: Eine europaweite „Covid-Solidaritätsabgabe“ auf hohe Vermögen, Unternehmensgewinne, Finanztransaktionen und die höchsten Einkommen. Der vdää schlägt zusätzlich eine solidarische Krankenversicherung vor, die auch hohe Einkommen miteinbezieht. „Zur Bewältigung der finanziellen Krisenlast benötigt es sozialen und politischen Druck, um auch jene Bereiche bzw. Menschen in die Verantwortung zu nehmen, die primär von der Krise profitiert haben“, schreibt der Verein in einer Pressemitteilung.
Grundsätzlich möchte ZeroCovid das Gesundheitswesen umgestalten. Es brauche mehr Personal und höhere Löhne, zudem sollen bisherige Privatisierungen und Schließungen zurückgenommen werden. Die Vergütung der Krankenhäuser über Fallpauschalen lehnen die Vertreter ab. Auch bezüglich der Impfstoffproduktion argumentieren sie antikapitalistisch: Die Vakzinen seien ein Ergebnis der kreativen Zusammenarbeit vieler Menschen und müssten daher allen gehören, statt der privaten Profiterzielung zu dienen.
Auch wenn die Forderungen von ZeroCovid nicht unbedingt realisierbar klingen, teilen einige Experten die Grundannahme: Die Inzidenzen müssen deutlich gesenkt werden, statt sie auf hohem Niveau zuzulassen. Beim aktuellen Kurs drohe „ein Dauerlockdown für das ganze“ Jahr mahnte etwa die Virologin Professor Dr. Melanie Brinkmann in einer Talkshow. Sie vertritt die „No-Covid-Strategie“, die von 14 Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen entwickelt wurde.
Ziel ist es, die Inzidenzwerte regional unter 10 zu drücken und diese Gebiete dann als „grüne Zone“ vor neuen Infektionen zu schützen und zu vergrößern. In diesen Gebieten sind vorsichtige Öffnungen möglich. Sobald die Inzidenz bei null liegt und zwei Wochen lang keine Infektionen unbekannten Ursprungs aufgetreten sind, soll weitgehend und dauerhaft geöffnet werden.
Dieser klare Wiederöffnungsplan erzeugt nach Meinung der Wissenschaftler einen positiven Wettbewerb zwischen den Regionen und macht die Wirkung der eigenen Anstrengungen wahrnehmbar.
Staaten, die die No-Covid-Strategie anwendeten, würden in jeder Hinsicht besser dastehen als Länder, die versuchen, mit dem Virus zu koexistieren, argumentieren sie. So würden Australien, Neuseeland, China und Taiwan weniger Tote und Infizierte verzeichnen, hätten geringere wirtschaftliche Einbußen und seien früh zur Normalität zurückgekehrt.
Den politischen Schlingerkurs der hiesigen Regierung sehen die No-Covid-Autoren äußerst kritisch. Es sei weder ein definiertes Ziel noch eine klare Strategie der Pandemiebekämpfung erkennbar, kritisierten sie Ende März in einer Stellungnahme. „Die politischen Debatten wirken teilweise uninformiert, das politische Handeln erscheint desorientiert und entkoppelt von der Position der Bevölkerungsmehrheit“, heißt es weiter. So habe die Regierung Öffnungen beschlossen, obwohl Wissenschaftler bereits vor der Ausbreitung der ansteckenderen britischen Virusmutante gewarnt hatten.
Auch ein großer Teil der Bevölkerung würde einen härteren Lockdown offenbar unterstützen: Rund 48 % der Befragten des ARD-Deutschlandtrends vom 1. April meinten, dass die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie nicht weit genug gehen würden.
Pandemiegeschehen mit neuen Kennwerten messen
Neben grünen Zonen sieht die No-Covid-Strategie weitere Maßnahmen vor, etwa eine breite Teststrategie. Zudem haben die Autoren neue Kenngrößen ausgearbeitet, mit denen die lokale Infektionslage besser eingeschätzt werden soll. Beispielsweise erfasse die „Risikoinzidenz“ Infektionen, von denen ein erhöhtes Risiko ausgeht, weil ihre Herkunft oder die betroffenen Kontakte ungeklärt seien.
Um den Impfprozess zu beschleunigen, fordern die Wissenschaftler, die erste Dosis aus Lagerbeständen schnell flächendeckend zu verabreichen und den maximalen Abstand zur Zweitimpfung auszuschöpfen. Für besonders wichtig halten sie eine Kommunikation, die die Bevölkerung mitnimmt und eine klare Strategie aufzeigt.
Medical-Tribune-Bericht