Kommentar Digitaler Überdruss
Weitgehend unwidersprochen lassen es die meisten Menschen zu, dass sie durch Push-Nachrichten, E-Mails, Telefonate, Whatsapps oder SMS aus ihrer Arbeit gerissen werden. Angeblich bleiben deutschen Führungskräften pro Tag nur noch 24 Minuten am Stück, in denen sie sich konzentriert einer einzigen Aufgabe widmen können. Das sind pro Woche gerade einmal zwei Stunden fokussiertes Arbeiten. Wer würde sich wohl in die Hände eines Arztes begeben, der sich dermaßen leicht ablenken lässt?
Hand aufs Herz: Wie oft hat nicht schon jeder von uns nur mal eben etwas im Internet nachschauen wollen – und ist erst nach Stunden wieder aufgetaucht, um festzustellen, dass er seine ursprüngliche Recherche nicht einmal ansatzweise erledigt hat?
Mittlerweile empfinde ich den unkritischen Smartphonegebrauch vieler Menschen um mich herum als störend und als fast so unhöflich wie öffentliches Nasepopeln oder Sich-am-Hintern-Kratzen. Zack, sind sie abgetaucht (oder waren sie nie richtig da?). Als würden sie grußlos an mir vorbeigehen oder sich mitten im Gespräch umdrehen.
Selbst in der Freizeit scheinen viele ihre Geräte nicht mehr ausschalten und weglegen zu können. Einige meiner Bekannten wählen deshalb ihre Urlaubsziele danach aus, dass sie dort auf keinen Fall per E-Mail, Messengerdienst oder Anruf erreichbar sind. Sie mieten sich übers Wochenende auf einer Alm im Funkloch ein oder nehmen für zwei Wochen Quartier auf einer Insel ohne elektrischen Strom.
Da ist die Kunst der digitalen Balance gefragt, nämlich der geübte Spagat zwischen dem bewussten Umgang mit dem Digitalen und der gewollten Zurückhaltung. Digital Detox ist schon lange kein Aufruf zum technophoben Rückzug, sondern eine notwendige Erinnerung daran, dass wir die Kontrolle über die Technik haben sollten – und nicht die Technik über uns.
Tobias Stolzenberg
Redakteur Medizin