SSRI abgesetzt, Sexualität dennoch gestört

Friederike Klein

Serotoninrezeptoren sind relevant für die Sexualfunktionen. Serotoninrezeptoren sind relevant für die Sexualfunktionen. © elnariz – stock.adobe.com

Die sexuelle Dysfunktion ist eine bekannte Nebenwirkung selektiver Serotonin-Wiederaufnahmehemmer. Inzwischen zeigt sich: Manche Probleme bleiben lange über die Einnahme der Medikamente hinaus bestehen.

Schon die Depression selbst ist ein Lustkiller und der deutliche Libidoverlust gehört zu den Diagnosekriterien für eine Depression, erklärte Professor Dr. Tillmann Krüger von der Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Psychotherapie der Medizinischen Hochschule Hannover. Aber genauso kann die antidepressive Therapie das Verlangen hemmen – selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) und Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI) wirken u.a. auf die für die Sexualfunktionen relevanten Serotoninrezeptoren.

Diese unerwünschten Effekte beobachtet man nicht nur unter laufender Behandlung, sondern sogar nach dem Absetzen. Prof. Krüger schätzt die Häufigkeit der post SSRI sexual dysfunction (PSSD) nach SSRI und SNRI auf einen einstelligen Prozentbereich. Die europäische Arzneimittelagentur EMA hat 2019 verfügt, dass die Produktinformationen zu Citalopram, Escitalopram, Fluvoxamin, Fluoxetin, Paroxetin, Sertralin, Duloxetin, Milnacipran den Warnhinweis auf die nachhaltige Beeinträchtigung der Sexualität enthalten müssen.

Symptomorientiert z.B. mit Sildenafil behandeln

Der Verdacht, dass eine solche Störung auf das abgesetzte Medikament zurückzuführen ist, besteht besonders bei jüngeren Patienten (< 50 Jahre) mit normalen Depressions- und Angstwerten auf der Hamilton Depressionsskala (HADS) ohne Substanzkonsum oder andere Erkrankungen, die solche Symptome erklären. Männer trifft es viermal häufiger als Frauen. Man kann eine symptomorientierte Therapie versuchen, z.B. mit Sildenafil bei der Indikation erektile Dysfunktion. Wichtig vor allem: die Partnerin mit einbeziehen, empfahl Prof. Krüger. Sie hält häufig die fehlende sexuelle Aktivität für das Ende der Liebe.

Frauen entwickeln als Langzeitfolge nach der Einnahme gelegentlich eine sehr belastende genitale Übererregbarkeit (Persistant Genital Arousal Disorder, PGAD). Berichtet wurde die Störung im Zusammenhang mit der Einnahme von Citalopram, Fluoxetin, Venlafaxin und anderen SSRI, aber auch weiteren zentralnervös wirksamen Substanzen wie Lamotrigin oder Quetiapin. Ob die Langzeiteinnahme von SSRI ein besonderes Risiko darstellt, weiß man noch nicht. Nach Erfahrung von Prof. Krüger gibt es eine Patientenpopulation mit einer besonderen Vulnerabilität für diese Nebenwirkungen. Er plant eine PGAD-Studie, um ätiopathologische und klinische Faktoren des Phänomens besser zu charakterisieren. 

Mit selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern die Demenzentwicklung verzögern?

SSRI sind auch bei älteren Patienten wirksam. Sie gelten als vergleichsweise nebenwirkungsarm und gut für die Langzeittherapie geeignet. Den Einsatz zur Demenzprävention legen präklinische Experimente nahe, in denen sich eine Assoziation der serotonergen Erregung mit einer Reduktion von Beta-Amyloid-Plaques zeigte. Im Mausmodell schien eine Gabe von Citalopram oder Escitalopram zudem kognitive Funktionen zu verbessern. Epidemiologische und Registerstudien kamen allerdings ebenso wie einige randomisiert-kontrollierte Studien zu sehr uneinheitlichen Ergebnissen hinsichtlich eines möglichen demenzpräventiven oder gar demenzfördernden Effekts von Antidepressiva. Dr. Claudia Bartels von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Göttingen wertete mit ihrer Arbeitsgruppe Angaben aus einer großen US-amerikanischen Datenbank aus. Ihr Ziel: den Effekt von SSRI auf die Konversion von milden kognitiven Einschränkungen (mild cognitive impairment, MCI) zur Demenz im klinischen Alltag zu ermitteln. Das Team fand heraus, dass eine vorangegangene Langzeiteinnahme von SSRI (> 4 Jahre) die Konversion von MCI zu Demenz um etwa drei Jahre verzögerte, nicht aber eine Kurzzeittherapie. Andere Antidepressiva schienen die Progressionsrate zu beschleunigen. In den ersten drei Beobachtungsjahren hatten Patienten mit MCI und SSRI-behandelter Depression in der Vorgeschichte sogar ein signifikant geringeres Konversionsrisiko als Patienten ohne Depression. In weiteren Analysen zeichnen sich Unterschiede zwischen den einzelnen SSRI ab, berichtete Dr. Bartels, betonte aber, dass solche Ergebnisse in prospektiven Studien überprüft werden müssen, bevor SSRI evtl. zur Demenzprävention bei Personen mit MCI eingesetzt werden können.

Auch andere potenzielle unerwünschte Effekte von SSRI sind noch wenig untersucht. So berichtete Professor Dr. Ulrich Schweiger von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein in Lübeck von einer um 5–10 Jahre vorgezogenen Knochenalterung bei Depressiven. Wahrscheinlich spielen verschiedene Faktoren eine Rolle – die Dysregulation von Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierensystem mit Hyperkortisolismus oder von Hypothalamus-Hypophysen-Gonadensystem mit niedrigen Testosteron- und Östrogenspiegeln aufgrund der psychiatrischen Grunderkrankung.

Serotoninrezeptoren auch auf Tumorzellen

Dazu kommt die damit verbundene Verhaltensänderung mit verminderter körperlicher Aktivität und einem vermehrten Konsum von Alkohol, Nikotin und anderen Substanzen. Hinweise für negative Einflüsse von SSRI auf die Knochen gibt es aus tierexperimentellen Studien, die sich bisher beim Menschen nicht bestätigen ließen. Eine epidemiologische Studie belegt aber ein erhöhtes Frakturrisiko unter SSRI-Therapie. Auch wenn bislang wenig Evidenz für Knochenschäden durch SSRI vorliegt, hält Prof. Schweiger aufgrund der Größenordnung des vorgealterten Skelettes bei depressiven Patienten das Problem durchaus für relevant. SSRI werden in Leitlinien zur Therapie der Depression bei Tumorpatienten ausdrücklich empfohlen. Es gibt aber auch Befürchtungen, dass sie die Proliferation von Tumorzellen beeinflussen könnten. Denn Serotoninrezeptoren auf Tumorzellen modulieren die mitogene Aktivität, berichtete Professor Dr. Kai G. Kahl von der Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Psychotherapie der Medizinischen Hochschule Hannover. In vitro fand sich zudem eine SSRI-induzierte zelluläre Glukoseaufnahme, sie könnte ebenfalls die Proliferation der Krebszellen antreiben. In Zelllinien von Mamma-, Ovarial- und Lungenkarzinom ließ sich aber kein Effekt von SSRI auf die mitotische Aktivität nachweisen. Eine retrospektive Studie ermittelte allerdings ein verkürztes progressionsfreies Überleben von Patientinnen mit Ovarialkarzinom und eine erhöhte Brustkrebsmortalität unter SSRI-Therapie.

Kongressbericht: Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) Kongress 2019

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Serotoninrezeptoren sind relevant für die Sexualfunktionen. Serotoninrezeptoren sind relevant für die Sexualfunktionen. © elnariz – stock.adobe.com