Kommerzielle Anbieter von Videosprechstunden: Neue Player in der hausärztlichen Versorgung
Während viele Niedergelassene im Frühjahr nur dringende Patienten behandelten und abwägten, ob sie Kurzarbeit anmelden müssen, erlebten die kommerziellen Anbieter von Videosprechstunden Hochkonjunktur. Der größte deutsche Player „TeleClinic“ gibt an, monatlich etwa 10.000 Konsultationen durchzuführen – bei einem Anstieg von etwa 20 % pro Monat. Die Zahl der Behandlungen ist seit Beginn des Jahres um 350 % gewachsen, 220 deutsche Ärzte kooperieren inzwischen mit dem Anbieter.
Auch internationale Unternehmen werden hierzulande präsenter, etwa das 2011 in London gestartete Unternehmen „Zava“. Es ist in Großbritannien, Frankreich und Irland vertreten und mit über 4,5 Mio. Beratungen führend in Europa. In diese Zahl fließen allerdings auch asynchrone Auskünfte ein, denn Patienten können auch schriftlich um Beratung oder Rezepte bitten.
Geht es nur um Videosprechstunden ist das schwedische Unternehmen „Kry“ (gesprochen: Krü) europäischer Marktführer. Es ist in Norwegen, Schweden, Großbritannien und Frankreich vertreten, seit letztem Jahr auch in Deutschland. Es verzeichnet über 2,4 Mio. erbrachte Videoberatungen. Die Zahl der deutschen Partnerärzte liegt bislang noch im zweistelligen Bereich.
Video-Riesen fischen einfache Patienten ab
Für Niedergelassene spielen diese Unternehmen eine ambivalente Rolle. Sie konkurrieren mit ihnen um Patienten mit einfachen Erkrankungen. „Die meisten buchen den Termin wirklich wegen grippaler Infekte“, bestätigt der Hamburger Hausarzt und Internist Dr. Jürgen Kolbeck. Er arbeitet als einer von 25 deutschen Ärzten mit dem Anbieter Zava zusammen. „Auch Harnwegsinfekte, Magen-Darm-Beschwerden oder Hautveränderungen kommen häufig vor.“
Die Anbieter listen auf ihren Webseiten noch ein deutlich breiteres Spektrum an Krankheiten, mit denen Patienten sich an sie wenden können – zum größten Teil aus dem hausärztlichen Kompetenzbereich.
Angebotene Beratungen
- Grippe
- Coronavirus
- Übelkeit
- Blasenentzündung
- Bluthochdruck
- Durchfall
- Halsschmerzen
- Leberflecken
- Gürtelrose
- Akne
- Rückenschmerzen
- Gelenkschmerzen
- Asthma
- Diabetes
- Depression
- Augenentzündung
- Erektionsstörungen
- Genitalwarzen
Konkurrenz belebt auch das medizinische Geschäft
Dr. Kolbeck hält das Konkurrenzdenken trotzdem für unbegründet: „Die meisten Hausärzte haben eher zu viele als zu wenige Patienten. Da kann man fast sagen: Ich bin froh um jeden, der woanders hingehen kann.“ Seiner Meinung nach tut das zusätzliche Angebot der Versorgung gut. „Konkurrenz belebt immer auch ein bisschen das Geschäft. Wenn ein Kollege merkt, dass ein anderer Anbieter schneller, effektiver und günstiger ist, dann muss er natürlich überlegen, ob er in seiner Praxis etwas ändert.“ Der Internist hat sich für die Kooperation mit einem Videodienstanbieter entschieden, um die Telemedizin in seiner Praxis mit mittlerer Scheinzahl flexibel einsetzen und hinzuverdienen zu können. Er rechnet die Konsultationen privat ab. Nach einer Beispielrechnung von Zava ergeben sich für ein Gespräch inklusive Rezept und Krankschreibung gemäß GOÄ rund 25 Euro Honorar, hinzu kommen Zuschläge für unübliche Zeiten. Seit einem Beschluss von KBV und GKV-Spitzenverband sind Videosprechstunden allerdings auch Kassenleistung, sofern der genutzte Videodienstanbieter von der KBV als zertifiziert gelistet ist. Dieser Faktor trug nach Angaben von TeleClinic entscheidend zum Erfolg der letzten Monate bei. Grundsätzlich arbeiten die Video-Riesen daran, Ärzten die Arbeit so bequem wie möglich zu gestalten. Die Mediziner können frei entscheiden, wie viel Zeit sie neben der regulären Sprechstunde für Videobehandlungen aufwenden. Außerdem nehmen die Anbieter ihnen viele der bürokratischen Pflichten ab. Beispielsweise erfolgt die Abrechnung von Privatpatienten, Selbstzahlern und Selektivpatienten bei TeleClinic vollautomatisiert.Einige Anbieter haben Abrechnung automatisiert
Am Ende des Quartals erstellt das Unternehmen eine Abrechnungsdatei, die zusätzlich zu den regulären Abrechnungsdaten bei der KV eingereicht werden kann. Die Auszahlung erfolgt dann zum gleichen Termin wie die normale Auszahlung. AU-Scheine, Rezepte und Überweisungen werden digital ausgefüllt und stehen den Patienten anschließend in den Apps der Anbieter zur Verfügung. Die wirtschaftlichen Risiken des Modells sind gering. Viele der Anbieter verlangen pro behandeltem Patienten eine Servicegebühr für die Nutzung ihrer Plattform. Fixkosten existieren in diesen Fällen nicht, auch die technische Ausstattung wird meist gestellt. TeleClinic gibt an, dass Ärzten nach Abzug der Gebühr noch rund 20 Euro pro Patient bleiben. Natürlich entfällt auch ein großer Teil des organisatorischen Aufwands. Partnerärzte müssen sich weder mit der Terminvereinbarung noch mit der Kontrolle von Patientenfragebögen beschäftigen. Ob das Geschäftsmodell der Unternehmen der Versorgung schadet oder nutzt, ist umstritten. Die Wettbewerbszentrale, eine unabhängige Kontrollinstanz der deutschen Wirtschaft, hegt große Bedenken gegen eine Primärversorgung per Video. Sie fordert vehement, die Telemedizin nur unterstützend einzusetzen, für bekannte Patienten. Sie bezweifelt, dass die Fernberatung eines Neupatienten qualitativ an eine Vor-Ort-Sprechstunde heranreicht.Patienten wissen meist, was per Video machbar ist
Dr. Kolbeck kann solche Bedenken nach seinen Erfahrungen jedoch entkräften. „Die meisten Patienten können sehr gut einschätzen, ob ihre Beschwerden für eine Videoberatung geeignet sind.“ Gelegentlich komme es vor, dass er nur eine Diagnose stellen könne, wo auch eine Behandlung erforderlich sei. Im Fall eines Leistenbruchs müsse er den Patienten zum Beispiel an einen Chirurgen überweisen. „Notfälle hatte ich bisher aber noch nie“, berichtet der Mediziner. Auch die Ärztekammer Hamburg sieht keine grundsätzlichen Probleme in dem Geschäftsmodell. „Gradmesser für unsere Beurteilung ist immer die Versorgung der Patienten: Sorgen die Videosprechstunden dafür, dass Menschen besser, schneller oder günstiger versorgt werden?“, erklärt Kammerpräsident Dr. Pedram Emami, zugleich Landesvorsitzender des Marburger Bundes. Er betont, dass die ärztliche Sorgfalt entscheidend sei, wie auch der Schutz der Patientendaten. Die Kontrolle über die Leistung solle jedoch bei der Selbstverwaltung bleiben. „Die Ärzteschaft muss den Prozess der Steuerung und Entwicklung in der eigenen Hand behalten“.Medical-Tribune-Bericht