TI-Ärger nimmt kein Ende Erste KVen wollen Ausnahmen von Sanktionen ermöglichen
Ein „imperfektes Produkt, das man einfach zurückgeben muss“, nannte Dr. Norbert Metke, Vorstandschef der KV Baden-Württemberg, die Telematikinfrastruktur (TI) auf der KBV-Vertreterversammlung Mitte September sehr erbost. Lebhaft argumentierend rief er dazu auf, „mit deutlich vermehrter Aggressivität“ gegenüber dem Bundesgesundheitsministerium aufzutreten, statt wie bisher nur Sanktionen gegen die KV-Mitglieder zu verhängen. Als konkreten Ansatz für den „Kampf“, forderte er die KBV auf, im Zusammenhang mit der Umsetzung der TI-Vorschriften den juristischen Sachverhalt der „faktischen Unmöglichkeit“ zu prüfen.
Diesen Vorschlag griff die KBV postwendend auf. In einer Stellungnahme schreibt der Stabsbereich Recht rund zwei Wochen später: Sanktionen einer KV infolge von „Umsetzungsdefiziten“ bei Anschluss oder Nutzung der TI müssten verhältnismäßig sein und dürfen somit nur festgesetzt werden, wenn sie sich dazu eignen, „den Vertragsarzt zur Nutzung der TI-Anwendungen anzuhalten“.
Und weiter: TI-Sanktionen müssten „geeignet, erforderlich und angemessen“ sein. Ist ein Anschluss oder die Nutzung technisch unmöglich oder stellt dies einen unverhältnismäßig hohen Aufwand dar, seien Sanktionen nicht gerechtfertigt. Die jeweilige Ermessensentscheidung, wann sanktioniert werde, liege bei der einzelnen KV. Zweck des Einsatzes des Disziplinarrechtes sei dabei allein die Aufrechterhaltung der Versorgung.
Eine erste konkrete Reaktion darauf kam von der KV Hessen. Sie sandte ein Rundschreiben an ihre Mitglieder, in dem sie sinngemäß erklärte: Wenn sich eine Kollegin oder ein Kollege den TI-Anschluss wenige Jahre vor dem Ausscheiden aus der Praxistätigkeit nicht mehr antun möchte und stattdessen Sanktionen in Kauf nimmt, so habe das einen negativen Einfluss auf die Versorgungssituation – womit es also dem Zweck von Disziplinarmaßnahmen widerspricht. Andere Fälle, in denen die Angemessenheit von Sanktionen zur Diskussion stehe, seien etwa, wenn die technischen Voraussetzungen für die TI durch mangelhafte Internetanbindung nicht vorhanden seien.
Auf Antrag oder im Rahmen des Widerspruchsverfahrens
In solchen Fällen könnten die Ärztinnen und Ärzte deswegen nun unter Angabe des Grundes und eines Nachweises (wie etwa einer Mitteilung des Internetanbieters) einen formlosen Antrag auf Befreiung von Sanktionen stellen, informierte die KV. Rund 100 Anträge sind in den ersten zehn Tagen bei der KV Hessen eingegangen, so ein Sprecher auf Anfrage. Man werde jeden Antrag einzeln bescheiden, betont er.
Die KV Baden-Württemberg freut sich, dass sich durch ihre Initiative das Tor für Ausnahmen von den TI-Sanktionen geöffnet hat. Auf Anfrage von Medical Tribune nach dem Umgang mit dieser neuen Option erklärte sie: Die KV könne hier „bestimmte Sondersituationen“ sehen, in denen eine Ausnahme möglich sei. Solche Sondersituationen werde man im Rahmen des Widerspruchsverfahrens gegen den Honorarbescheid bearbeiten.
Für die 120 Praxen, die nach Angaben der KV vom September in Baden-Württemberg seit 1/2019 Widersprüche eingelegt haben, ist damit also noch nicht mal ein Antrag vonnöten. Die Gesamtzahl der nicht an die TI angeschlossenen Praxen liegt allerdings bei rund 10 % aller Praxen des Bundeslandes, also etwa bei 1.500.
Modernisierung beschlossen: TI 2.0 – ganz ohne Konnektor
- Die Authentifizierung soll auch über elektronische Identitäten (eIDs) möglich werden. Nutzende müssen sich dann einmal am Identitätsprovider anmelden und können dann alle Anwendungen nutzen (Single-Sign-On).
- Alle Dienste der TI 2.0 sollen für alle Nutzergruppen mittels eigener Endgeräte und ohne Konnektor direkt über das Internet verfügbar sein.
- Die TI 2.0 soll Anwendungen ermöglichen, die auf der Kombination von Diensten aufgebaut sind (verteilte Dienste). Daten und Abläufe aus den verschiedenen Diensten können durch die App und das direkte Zusammenspiel der Dienste zusammengeführt werden. Voraussetzung ist eine standardisierte Schnittstellentechnologien und ein Standard für die Formate von Daten.
- Für Datenstrukturen und Schnittstellen in der TI 2.0 wird FHIR (Fast Healthcare Interoperability Resources) als Standard etabliert. FHIR hat sich aus der klinischen Praxis entwickelt, wird international verwendet und ist darauf ausgerichtet, den interoperablen Datenaustausch für medizinische Dokumentation zu unterstützen.
- Es soll kein zentrales Netz mit physischen Zugangspunkten und Konnektor mehr geben. Zugriff auf die Dienste gibt es mit Smartcard oder eID. Die Sicherheit soll über „Zero Trust Networking“ gewährleistet werden: Jede Verbindung ist Ende-zu-Ende abgesichert, die Seiten einer Verbindung authentisieren sich gegenseitig.
- Es sollen Mindeststandards durch ein rechtliches, organisatorisches und technisches Regelwerk etabliert werden, erarbeitet von den sektorverantwortlichen Stellen mit der Gematik. Geregelt werden Sicherheit, Datenschutz, Funktionalität, Interoperabilität sowie Verfügbarkeit. Teile dieses Regelwerks sind maschinenlesbar und können über die TI automatisch geprüft werden.
Manchen Praxen werden seit 2019 Honorare gekürzt
Zum Hintergrund: Arztpraxen mussten bis Ende Juni 2019 an die TI angebunden sein. Praxen, die dem bis dahin nicht nachgekommen sind, wurden und werden Honorare gekürzt, zunächst um 1 % der Abrechnungssumme, seit März 2020 um 2,5 %. Auch bei Nichtnutzung bestimmter Anwendungen der TI können Disziplinarmaßnahmen eingesetzt werden wie etwa Honorarabzüge von 1 %. Kritiker weisen unter anderem darauf hin, dass die Telematikinfrastruktur nur aufgrund der Sanktionsvorgaben eine Chance auf Umsetzung in den Praxen habe. Die immer wieder als unausgereift und unzureichend bewertete Technik der Systeme hinter der TI könnte sich auf Basis der Freiwilligkeit gar nicht durchsetzen.Medical-Tribune-Bericht