Telematikinfrastruktur KBV fordert Konsolidierungsphase für gematik-Projekte
Fast 350.000 Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen stellen bundesweit die Niedergelassenen an einem Tag aus. Plus knapp zwei Millionen Verordnungen täglich. Unausgereifte Technik und Abläufe bei neuen Anwendungen können sich die Praxen deshalb nicht leisten, sagt KBV-Vorstand Dr. Thomas Kriedel. In den zurückliegenden Wochen habe es 16 Störungen in der Telematikinfrastruktur (TI) gegeben. Sie dauerten im Schnitt siebeneinhalb Stunden, bis sie behoben waren.
KBV wünscht sich einen TI-TÜV und ein Frühwarnsystem
Die KBV will sich für ein Frühwarnsystem bei Störungen einsetzen, bei dem die Praxen direkt erkennen können, ob die Störung aus der TI kommt oder mit ihrem Praxisverwaltungssystem zusammenhängt. Derzeit sei das pures Rätselraten und führe zu verzweifeltem Herumtelefonieren, weiß Dr. Kriedel. Im Praxisbetrieb sei es wichtig zu wissen, ob Abläufe notfalls zügig auf analoge Rückfallregelungen umgestellt werden müssten.
Neben organisatorischen Verbesserungen verlangt die Körperschaft, dass den Praxen bei technischen Hindernissen Aufschub gewährt wird. Es müsse sichergestellt sein, dass neue Anwendungen erst dann flächendeckend eingesetzt würden, wenn sie funktionierten. „Sollte die gematik das nicht selbst schaffen, muss die Politik vielleicht über eine Art TÜV für alles nachdenken, was in die TI und damit auch in die Praxis soll“, so Dr. Kriedel. „Wir brauchen eine Ausfallsicherheit von 99,99 % mit redundanten Strukturen als Sicherheitsnetz.“
Das KBV-Vorstandsmitglied beklagt, dass BMG und gematik trotz aller Warnungen aus den KVen „an den rein politisch gesetzten Startterminen für das Prestige-Projekt Digitalisierung festhalten“. Ohne Ironie stellt Dr. Kriedel fest: Der Großen Koalition sei kein einziges großes IT-Projekt geglückt – weder der verschlüsselte DE-Maildienst noch der elektronische Personalausweis. Einzig mit den „viel gescholtenen Vertragsärzten und Psychotherapeuten“ habe Jens Spahn bei der Digitalisierung „aufs richtige Pferd gesetzt“, allerdings die Nerven überstrapaziert.
Berufsgeheimnis in Gefahr
Nur jede dritte Bremer Praxis meldet sich startklar zur eAU
Gemeint ist die Übergangsphase für die eAU. Offiziell bleibt es beim Starttermin 1. Oktober. Doch im vierten Quartal darf für eine AU weiter das Muster 1 ausgestellt werden. Anders geht es wohl auch nicht. Dr. Bernhard Rochell, Vorstandschef der KV Bremen, berichtet von einer Befragung der Praxen in der Hansestadt, wonach derzeit erst 31 % der Niedergelassenen die technischen Voraussetzungen für die eAU erfüllen können – und 47 % nicht (20 % haben nicht geantwortet). Es seien derzeit auch erst sieben der rund 100 gesetzlichen Krankenkassen technisch in der Lage, die eAU anzunehmen, ergänzt Dr. Kriedel. Gleichwohl rät er den Praxen, sich umgehend alle erforderlichen Komponenten zu beschaffen und den KIM-Dienst für den sicheren Versand von eAU sowie eArztbriefen zu installieren. Die Übergangszeit sollten die Praxisteams dafür nutzen, „außerhalb der Sprechstunden die eAU Schritt für Schritt zu testen“. Außerdem müsse den Patienten erklärt werden, was sich bei der AU für sie ändere – und bei der Verordnung. Der KBV-Vorstand weiß: „Ein Großteil der Praxen ist nicht nur pandemiemüde, sondern auch digitalisierungsmüde.“ Kein Wunder: Sie hätten umfassend digitalisiert, ohne selbst einen Nutzen davon zu haben. „Wir brauchen dringend eine Konsolidierungsphase, in der sich die bereits eingeführten oder angestoßenen Anwendungen erst einmal in den Praxisabläufen etablieren können, bevor schon wieder Neues die Abläufe zusätzlich aufmischt.“ Auch die Industrie brauche mehr Luft. Durch eAU und eRezept würden so viele Ressourcen gebunden, dass den Hersteller die Zeit für die elektronische Patientenakte – konkret die Einbindung von Objekten wie dem Impf- und Mutterpass – fehle. Das digitale EU-COVID-Zertifikat rüttelte die Zeitpläne zusätzlich durch. Von der nächsten Bundesregierung erhofft sich die KBV, dass der Ärzteschaft ein Vetorecht bzw. eine entscheidende Stimme in der gematik eingeräumt wird. Derzeit habe man nur einen Anteil von 7 % (BMG 51 %) und werde einfach überstimmt. Drei Tage nach der Bundestagswahl soll in der gematik-Gesellschafterversammlung das Konzept zur TI 2.0 beschlossen werden. Die gematik wolle sich vom geschlossenen Gesundheitsnetz, also vom Konnektor als TI-Anschluss, verabschieden und künftig den „Zero-Trust-Ansatz“, eine Software-Lösung, verfolgen. Wieder drohe den Praxen eine Situation, in der sie als Experimentierfeld benutzt werden könnten.2024 soll sich der Konnektor selbst aus dem Verkehr ziehen
Die KBV fordert, dass die Betriebs- und Sicherheitsverantwortung im Zero-Trust-System bei der gematik liegt und ein bruchfreier Übergang, ohne Störung des Praxisablaufs, gewährleistet wird. Alle Kosten seien den Praxen zu ersetzen. 2024 würden sich die Hardware-Konnektoren – wie vom Gesetzgeber vorgeschrieben – automatisch deaktivieren.Quelle: KBV-Vertreterversammlung