Telematikinfrastruktur KBV fordert Konsolidierungsphase für gematik-Projekte

Praxismanagement , Praxis-IT Autor: Michael Reischmann

Dr. Thomas Kriedel, Mitglied des KBV-Vorstandes Dr. Thomas Kriedel, Mitglied des KBV-Vorstandes © iconimage – stock.adobe.com; Georg J. Lopata

Mit der eAU ab 01.10.2021 und dem eRezept ab 01.01.2022 kommen die ersten TI-Massenanwendungen auf die Praxen zu. Die KBV-Vertreterversammlung fordert, deren Einführung zu verschieben. Denn es fehle an technischer Ausstattung und die Lösungen seien noch nicht praxisreif.

Fast 350.000 Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen stellen bundesweit die Niedergelassenen an einem Tag aus. Plus knapp zwei Millionen Verordnungen täglich. Unausgereifte Technik und Abläufe bei neuen Anwendungen können sich die Praxen deshalb nicht leis­ten, sagt KBV-Vorstand Dr. Thomas Kriedel. In den zurückliegenden Wochen habe es 16 Störungen in der Telematikinfrastruktur (TI) gegeben. Sie dauerten im Schnitt siebeneinhalb Stunden, bis sie behoben waren.

KBV wünscht sich einen TI-TÜV und ein Frühwarnsystem

Die KBV will sich für ein Frühwarnsystem bei Störungen einsetzen, bei dem die Praxen direkt erkennen können, ob die Störung aus der TI kommt oder mit ihrem Praxisverwaltungssystem zusammenhängt. Derzeit sei das pures Rätselraten und führe zu verzweifeltem Herumtelefonieren, weiß Dr. Kriedel. Im Praxisbetrieb sei es wichtig zu wissen, ob Abläufe notfalls zügig auf analoge Rückfallregelungen umgestellt werden müssten.

Neben organisatorischen Verbesserungen verlangt die Körperschaft, dass den Praxen bei technischen Hindernissen Aufschub gewährt wird. Es müsse sichergestellt sein, dass neue Anwendungen erst dann flächendeckend eingesetzt würden, wenn sie funktionierten. „Sollte die gematik das nicht selbst schaffen, muss die Politik vielleicht über eine Art TÜV für alles nachdenken, was in die TI und damit auch in die Praxis soll“, so Dr. Kriedel. „Wir brauchen eine Ausfallsicherheit von 99,99 % mit redundanten Strukturen als Sicherheitsnetz.“

Das KBV-Vorstandsmitglied beklagt, dass BMG und gematik trotz aller Warnungen aus den KVen „an den rein politisch gesetzten Startterminen für das Prestige-Projekt Digitalisierung festhalten“. Ohne Ironie stellt Dr. Kriedel fest: Der Großen Koalition sei kein einziges großes IT-Projekt geglückt – weder der verschlüsselte DE-Maildienst noch der elektronische Personalausweis. Einzig mit den „viel gescholtenen Vertragsärzten und Psychotherapeuten“ habe Jens Spahn bei der Digitalisierung „aufs richtige Pferd gesetzt“, allerdings die Nerven überstrapaziert.

Berufsgeheimnis in Gefahr

Warnend äußert sich KBV-Vorstand Dr. Thomas Kriedel auch zur E-Evidence-Verordnung, die auf EU-Ebene vor der Verabschiedung steht. Geplant sei, dass Ermittlungsbehörden anderer EU-Staaten bei Verdacht auf gewisse Straftaten auch die Herausgabe medizinischer Daten verlangen könnten. „Wir sehen hier nichts weniger in Gefahr, als das ärztliche Berufsgeheimnis. Das lehnen wir entschieden ab!“ Die KBV versuche über die Ärzteverbandsvertretung CPME in Brüssel einzuwirken und habe das BMG kontaktiert. Man hofft, dass Parlament und Rat noch zu einer Einigung finden, die dem deutschen Datenschutz und der ärztlichen Schweigepflicht entspricht. „Ansonsten ist nämlich in Deutschland nicht nur die ePA in Gefahr – sondern die Digitalisierung insgesamt.“

Einstimmig sprach sich die KBV-Vertreterversammlung dafür aus, sowohl die Einführung des eRezeptes als auch die Verpflichtung zum Ausstellen der eAU zu verschieben. „Mit den augenblicklichen technischen Ressourcen sind die Maßnahmen undurchführbar“, lautet die Begründung. Mehrere KV-Vertreter schlagen Alarm. Sie fordern klare Ansagen und Aktionen in Richtung Politik. Die Teams in den Praxen seien sauer über den Stress mit der Digitalisierung sowie über drohende oder verhängte Sanktionen. Natürlich bestehe bei fehlender Verfügbarkeit der technischen Komponenten keine Sanktionspflicht der KV, erwidert KBV-Chef Dr. ­Andreas Gassen. KBV-Vize Dr. Stephan Hofmeister sagt, dass die KBV Ministerium und gematik in Gesprächen und Schreiben immer wieder auf die Unzulänglichkeiten der TI-Anwendungen und unrealistische Termine hinweise – „aber die machen einfach weiter“. Der jüngste Trick sei gewesen, dass nicht das Gesetz angepasst wurde, sondern KBV und GKV-Spitzenverband sich auf Reserve-Regelungen im Bundesmantelvertrag verständigen mussten.

Nur jede dritte Bremer Praxis meldet sich startklar zur eAU

Gemeint ist die Übergangsphase für die eAU. Offiziell bleibt es beim Starttermin 1. Oktober. Doch im vierten Quartal darf für eine AU weiter das Muster 1 ausgestellt werden. Anders geht es wohl auch nicht. Dr. Bernhard Rochell, Vorstandschef der KV Bremen, berichtet von einer Befragung der Praxen in der Hansestadt, wonach derzeit erst 31 % der Niedergelassenen die technischen Voraussetzungen für die eAU erfüllen können – und 47 % nicht (20 % haben nicht geantwortet). Es seien derzeit auch erst sieben der rund 100 gesetzlichen Krankenkassen technisch in der Lage, die eAU anzunehmen, ergänzt Dr. Kriedel. Gleichwohl rät er den Praxen, sich umgehend alle erforderlichen Komponenten zu beschaffen und den KIM-Dienst für den sicheren Versand von eAU sowie eArztbriefen zu installieren. Die Übergangszeit sollten die Praxisteams dafür nutzen, „außerhalb der Sprechstunden die eAU Schritt für Schritt zu testen“. Außerdem müsse den Patienten erklärt werden, was sich bei der AU für sie ändere – und bei der Verordnung. Der KBV-Vorstand weiß: „Ein Großteil der Praxen ist nicht nur pandemiemüde, sondern auch digitalisierungsmüde.“ Kein Wunder: Sie hätten umfassend digitalisiert, ohne selbst einen Nutzen davon zu haben. „Wir brauchen dringend eine Konsolidierungsphase, in der sich die bereits eingeführten oder angestoßenen Anwendungen erst einmal in den Praxisabläufen etablieren können, bevor schon wieder Neues die Abläufe zusätzlich aufmischt.“ Auch die Industrie brauche mehr Luft. Durch eAU und eRezept würden so viele Ressourcen gebunden, dass den Hersteller die Zeit für die elektronische Patientenakte – konkret die Einbindung von Objekten wie dem Impf- und Mutterpass – fehle. Das digitale EU-COVID-Zertifikat rüttelte die Zeitpläne zusätzlich durch. Von der nächsten Bundesregierung erhofft sich die KBV, dass der Ärzteschaft ein Vetorecht bzw. eine entscheidende Stimme in der gematik eingeräumt wird. Derzeit habe man nur einen Anteil von 7 % (BMG 51 %) und werde einfach überstimmt. Drei Tage nach der Bundestagswahl soll in der gematik-Gesellschafterversammlung das Konzept zur TI 2.0 beschlossen werden. Die gematik wolle sich vom geschlossenen Gesundheitsnetz, also vom Konnektor als TI-Anschluss, verabschieden und künftig den „Zero-Trust-Ansatz“, eine Software-Lösung, verfolgen. Wieder drohe den Praxen eine Situation, in der sie als Experimentierfeld benutzt werden könnten.

2024 soll sich der Konnektor selbst aus dem Verkehr ziehen

Die KBV fordert, dass die Betriebs- und Sicherheitsverantwortung im Zero-Trust-System bei der gematik liegt und ein bruchfreier Übergang, ohne Störung des Praxisablaufs, gewährleistet wird. Alle Kosten seien den Praxen zu ersetzen. 2024 würden sich die Hardware-Konnektoren – wie vom Gesetzgeber vorgeschrieben – automatisch deaktivieren.

Quelle: KBV-Vertreterversammlung