Elektronische AU: Fristloser Stichtag lässt Fachleute Chaos befürchten

Praxismanagement , Praxis-IT Autor: Anouschka Wasner

eAU schluckt Muster eins: Ursprünglich sollten ab Oktober keine „gelben Scheine“ mehr ausgestellt werden. Die Frist wurde bis Ende des Jahres verlängert. Die eAU soll grundsätzlich alternativlos sein. eAU schluckt Muster eins: Ursprünglich sollten ab Oktober keine „gelben Scheine“ mehr ausgestellt werden. Die Frist wurde bis Ende des Jahres verlängert. Die eAU soll grundsätzlich alternativlos sein. © Alexander Raths, Kostiantyn – stock.adobe.com; iStock/Anna Bliokh

Mit Gongschlag zum 1. Oktober soll die eAU das gängige Muster 1 ersetzen. Vertragsarztpraxen müssen dann die Daten einer AU über KIM an die Krankenkassen übermitteln. Eine Übergangsfrist? Nicht vorgesehen.

+++ Aktualisierung vom 13.08.2021: Jetzt doch Übergangsregel für elektronische AU +++

KBV und GKV-Spitzenverband haben nach Angaben der KBV eine Übergangsregelung eingerichtet für Praxen, die bis zum 1. Oktober noch nicht über die nötigen technischen Voraussetzungen für eine elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU) verfügen. Mehr »

Von „drohendem Desaster“ und „Chaos“, das am 1. Oktober eintreten könnte, war die Rede, und dass Praxen in einen „rechtsfreien Raum“ gezwungen würden – in einem Brandbrief an die KBV hatten Verantwortliche aus dem Bereich Digitalisierung von acht KVen Mitte Juli Alarm geschlagen. Betroffen sein könnte den KV-Verantwortlichen zufolge über die Hälfte der Praxen, die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen (AU) ausstellen. Grund für die Sorge: Ab 1. Oktober soll Muster 1, der gelbe Schein, nicht mehr zur Ausstellung einer AU genutzt werden dürfen. Arbeitsunfähigkeiten müssen ab dann mithilfe eines neuen Moduls in der PVS erstellt werden, per elektronischer Signatur unterzeichnet und mittels KIM-Dienst über die TI-Anbindung an die Kassen übermittelt werden. Doch bei den technischen Voraussetzungen hapert es an Funktion wie Verbreitung. Und um es vorwegzunehmen: Eine Verschiebung des Stichtages ist nach Auskunft der KBV aktuell nicht in Sicht. Man bleibe aber bei der entsprechenden Forderung, sollte sich die Lage weiter als schwierig erweisen, so die KBV.

Die schnelle Unterschrift am Tresen ist Vergangenheit

Was sich seit dem Brandbrief in Richtung Machbarkeit gewendet hat, ist, dass es für alle Konnektoren eine Zulassung für das Update zum „ePA-Konnektor“ gibt. Das PTV4+-Upgrade lässt die Konnektoren komfortsignaturfähig sein, was für die Arbeitsabläufe in der Praxis eine Bedeutung hat. Das ändert jedoch wenig an den organisatorischen Verwerfungen, die die Umstellung mit sich bringt: Alles, was der Arzt bislang „mal eben“ unterschreiben konnte, muss jetzt über KIM am Computer unterzeichnet werden. Auf Fachebene hält man es für „absolut unrealistisch“, für eine solche Umstellung einen einzigen Stichtag ohne Übergangszeit einzuräumen. Die Verbreitung des elektronischen Heilberufsausweises eHBA 2.0 hat zumindest in den letzten Wochen an Fahrt aufgenommen – auch wenn bis zum Stichtag weiterhin nicht mit der vollständigen Abdeckung zu rechnen ist. Während der eHBA aber durch den Praxisausweis ersetzt werden kann, bleibt das Problem der KIM-Anbindung ein echtes Problem: Die KBV geht von aktuell rund 11.500 KIM-Adressen aus – „das ist bei etwas über 100.000 Praxen in Deutschland nicht viel“, so KBV-Sprecher Dr. Roland Stahl. Die Erfahrungen der Vorreiter-Praxen konnten wohl keinen „Das will ich auch!“-Effekt auslösen: Installation und Zusammenspiel mit dem Konnektor können offensichtlich problematisch sein. Von Mitte Juli stammt die Zahl, dass gerade mal 20 von über 100 relevanten PVS-Systemen über die erforderlichen Updates zur Ausstellung einer eAU aus dem System heraus verfügten. Es hätten aktuell immer noch nicht alle Anbieter den notwendigen Zertifizierungsprozess angestoßen, so die KBV. Monika Schindler, Leiterin Digitalisierung bei der Kassenärztlichen Vereinigung Bayern, geht von maximal 80 oder 90 % der Systeme aus, die zum Stichtag bereit sein werden.

eAU – was braucht‘s, wie geht‘s?

Für Ärztinnen und Ärzte, die das schnelle Heranrücken des Stichtages 1. Oktober für die eAU noch unvorbereitet trifft, hier in aller Kürze, welche Voraussetzungen für dafür vorliegen müssen:
  • Die Praxis muss an die Telematikinfrastruktur (TI) angeschlossen sein.
  • Der Konnektor sollte möglichst über ein PTV4-Update zu einem „ePA-Konnektor“ geupdatet sein, sodass er die „Komfortsignatur“ unterstützt.
  • Die Praxis muss an einen KIM-Dienst angebunden sein (KIM = Kommunikation im Gesundheitswesen)
  • Das Praxisverwaltungssystem (PVS) muss das eAU-Modul integriert haben.
  • Ärztin bzw. Arzt brauchen einen elektronischen Heilberufsausweis mind. der Generation 2 (eHBA G2) für die qualifizierte Signatur (ersatzweise ist auch der Praxisausweis einsetzbar).
  • Die Praxis braucht eventuell zusätzliche Kartenterminals in den Sprechzimmern.
Die Erstellung der eAU erfolgt über das PVS der Praxis. Nach Eingabe der Daten können Arzt und Ärztin das elektronische Dokument mittels eHBA/Kartenlesegerät und ihrer individuellen PIN signieren und über den entsprechenden Button „Drucken und Versenden“, um die Daten aus dem PVS an die Krankenkasse zu übermitteln. Die Kopien für Patienten und Arbeitgeber werden bis 1. Juli 2022 noch ausgedruckt und von Hand unterzeichnet. Ab dann soll die Weiterleitung an den Arbeitgeber digital erfolgen. Über eine Stapelsignatur ist es möglich, alle eAUs gleichzeitig am Ende der Sprechstunde zu signieren und zu versenden. Die Komfortsignatur, für die man einmal die PIN eingibt und dann eine gewisse Anzahl von Signaturen freigeschaltet werden, hat den Vorteil, dass eventuell auftretende Probleme beim Versand direkt erkannt werden können. Dann ist es möglich, dem Patienten einen Ausdruck des Dokuments für die Krankenkasse mitzugeben. Oder man hofft darauf, dass die Übermittlung innerhalb bis zum Ende des nachfolgenden Tages wieder funktioniert und das PVS wie vorgesehen, die gespeicherten Daten nachträglich versendet. Ansonsten hilft nur: Dokument aus dem eAU-Modul des PVS heraus ausdrucken und selbst an die Kasse schicken.

Schindler und ihre Fachabteilung haben den Brandbrief an die KBV mitverfasst. „Wir in den KVen halten die eAU für viel kritischer als die für den Patienten freiwillige ePA oder das eRezept, für das es noch lange Muster 16 als Ersatzverfahren geben wird“, erklärt sie den Anlass der Intervention. Zumal die Umstellung faktisch ohne vorherige Feldtests erfolgen soll: Die wurden verschoben und sollen frühestens zum 20. August beginnen. „Bis dann Erkenntnisse vorliegen, was prozessual und technisch Probleme bereiten wird, ist ja schon Oktober“, kritisiert Schindler. Die KBV hatte aus diesem Grund gefordert, dass es keine Sanktionen gegen die Praxen geben dürfe, wenn technische Mängel die praktische Umsetzung massiv behindern.

Austausch von Hardware kann Wochen dauern

Bei den KVen würden jetzt schon immer wieder Berichte aus den Praxen eintreffen, dass z.B. beim Update des Konnektors dieser kaputtgegangen sei. Ein Austausch dauere dann oft Wochen oder Monate. „Wie soll das denn gehen, wenn man bei Ausfall eines technischen Gerätes Wochen warten muss, bis die Praxis wieder angebunden werden kann?“, fragt sich Schindler. Viele der Ärzte, die anfangs noch am Ball gewesen wären, wenn es um die Digitalisierung ging, sei die Lust vergangen. Die Technik instabil, die Wiederherstellung auf eigene Kos­ten, das Warten auf Techniker und Hardware nervenaufreibend. Auf der anderen Seite der Waage: Vom Versichertenstammdatenmanagement profitieren die Kassen, von der eAU die Kassen und später die Arbeitgeber und das eRezept muss weiterhin vom Arzt ausgedruckt werden, weil die meisten Patienten das so wollen. Also null Entlastung vs. Mehraufwand, Mehrkosten, mehr Prozesse und mehr Ausfallrisiko. Und wenn der Stichtag tatsächlich so bestehen bleibt? Dann dürfte das Ersatzverfahren in einigen Praxen viel Nerven und Zeit in Anspruch nehmen. Grundsätzlich geregelt ist das Verfahren im BMV-Ä Anlage 2b: „Wenn dem Vertragsarzt zum Zeitpunkt der Ausstellung der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bekannt ist, dass die digitale Erstellung oder Datenübermittlung an die Krankenkasse aktuell nicht möglich ist, erhalten Versicherte eine mittels Stylesheet erzeugte papiergebundene Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung.“ Die Formulare sollen also dem Patienten als Ausdruck an die Hand gegeben werden bzw. per Post an die Kasse gehen. Klingt machbar, doch: Auch wenn die Stylesheets von einem Anschluss an die TI und von ihrer Funktionsfähigkeit unabhängig sind, braucht man doch für das Ausdrucken ein PVS-System mit entsprechendem Update. Hat der Hersteller das nicht pünktlich bereitgestellt oder funktioniert es nicht – bleibt nur zu hoffen, dass sich in irgendeiner Schublade noch gelbe Scheine finden und die Kassen diese annehmen. Eine dauerhafte Nutzung des Ersatzverfahrens ist dabei an keiner Stelle vorgesehen: Sämtliche AU, die mittels Ersatzverfahren erstellt und ausgegeben werden, sollen – sobald das technisch (wieder) möglich ist – digital über KIM an die Krankenkassen nachversandt werden. Und da die Kassen von einem einheitlichen System profitieren, da es ihre Verwaltungsvorgänge vereinfacht, dürften sie Dauernutzer des Ersatzverfahrens nicht gerne sehen. Möglichen Prüfanfragen müssen die KVen irgendwann nachgehen. Inwieweit dann auch das Thema Zulassung auf den Tisch kommt, dazu will sich im Moment niemand so genau äußern. „Ich glaube, die Ärzte haben keine Ahnung, was da auf sie zukommt“, sagt Schindler. Die KVen hätten bislang noch nicht viel an die Praxen kommunizieren können. Wie die digitale Signatur funktioniert, wann Updates zur Verfügung stehen und wie das Zusammenspiel zwischen KIM und Update funktioniert, „das ist alles noch in Arbeit und erst mal vor allem in Spezifikationen festgehalten“. Die Konsequenz gegenüber so viel Theorie könnte bei manchen Ärztinnen und Ärzten auch praktische Auswirkungen haben: Für einige mag es der Moment sein, an dem sie sich in die Privatpraxis zurückziehen oder einfach aufhören. Gebeutelt von Pandemie, quertreibenden Patienten und MFA-Abwanderungen kommen die angeschlagenen Praxen recht schnell an diesen Punkt, so Schindler. „Würde dagegen eine Übergangszeit eingeräumt, könnte das nicht nur das schlimmste Organisationschaos verhindern, sondern auch den Praxen vermitteln, dass man ihre Probleme versteht.“ Auch jene Praxen, die die Anbindung an die TI bislang verweigern, werden jetzt in eine Entscheidung gezwungen. „Es ist verrückt: Wir setzen uns für Datenschutz und Schweigepflicht ein und werden dafür kriminalisiert. Wir werden uns an die TI anschließen müssen – oder wir arbeiten als Privatärzte oder gehen vorzeitig in Ruhestand“, beschreibt es Dr. Karen von Mücke, internistische Hausärztin aus München. Dr. Daniel Pohl, Hausarzt in einer Gemeinde mit 7000 Einwohnern im Landkreis von München, will seinen Widerspruch auf jeden Fall aufrechterhalten: „Meine Überzeugung, keine Krankengeschichten meiner Patienten über zentrale Datenspeicher laufen zu lassen, weil ich darin eine Aushöhlung der Schweigepflicht sehe, bringt mich ab 1. Oktober in große Schwierigkeiten. Ich werde weiter das gelbe Formular verwenden. Von einem Fehlen vertragsärztlicher Leis­tung kann keine Rede sein – es darf nicht an einem Zettel hängen.“

„Dann bastel ich mir ein Ersatz-Ersatzverfahren“

Ein bundesweites Praxischaos befürchtet auch Wilfried Deiß, Internist und Hausarzt in Siegen: „Ich mache einfach nicht mit. Kann ich auch gar nicht, denn unsere Praxis ist nicht an die TI angebunden. Stattdessen werde ich das Ersatzverfahren nutzen und damit wahrscheinlich zur Mehrheit der Praxen gehören. Und wenn das Formular für das Ersatzverfahren nicht vorliegt, weil das Update zur Praxissoftware fehlt oder es nicht funktioniert – dann bastel ich mir eben selbst ein Formular für ein Ersatz-Ersatzverfahren. Krankenakten gehören nur in mein vom Internet komplett abgetrenntes Praxis-Intranet. Die Gefahren für das Arztgeheimnis sind zu groß und seit 2005 durch Angriffsmöglichkeiten von außen noch viel größer geworden. Und damals war noch keine Rede von Datenverwertung „für die Forschung“ (wohlgemerkt, nicht nur medizinische Forschung) oder „für die Gesundheitswirtschaft“. Und auch die Freiwilligkeit der Speicherung wird immer mehr aufgeweicht, politisch wie digitaltechnisch. Die größte Gefahr birgt aber meines Erachtens die ePatientenakte mit ihren persönlichen und frei formulierten Arztberichten, die in Zukunft maschinenlesbar im Rahmen einer „semantischen Datenverarbeitung“ und „Interoperabilität“ der Systeme genutzt werden sollen, soviel ist sicher. Im Rahmen dessen ist „Pseudonymisierung“ ein Witz. Und wenn mir mit Zulassungsentzug gedroht wird? Ich möchte noch fünf Jahre arbeiten und setze alles daran, eine Praxisnachfolge zu finden. Da aktuell unvermeidlich, zahle ich bis dahin jährlich etwa 7000 Euro „Honorarkürzung“. Wenn noch zusätzliche Sanktionen installiert werden, müssen KVen, Kassen und Gesundheitsministerium sich klar darüber sein, dass Sie in unserem Falle die Versorgung von 1200-1300 PatientInnen gefährden. Wäre klasse, wenn sich die Kassenärztliche Bundesvereinigung klarer gegen eine die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems gefährdende Zwangs-Digitalisierung ausspräche.“

Medical-Tribune-Recherche