Elektronische Patientenakte: Änderungsvorschläge schon vor der Ankunft
Nicht alle, doch viele Praxen werden ab Juli auf Wunsch des Patienten dessen ePA befüllen und lesen können. Davon ist Jens Spahn überzeugt. Mitmachen kann, wer einen Konnektor mit ePA-Upgrade und ein ePA-Modul im Praxisverwaltungssystem hat. Der elektronische Heilberufsausweis (eHBA) wird technisch nur für die qualifizierte elektronische Signatur benötigt, z.B. beim Notfalldatensatz. Aber: „Rechtlich gesehen ist ... festzuhalten, dass der Zugriff auf die ePA ohne mindestens einen HBA-Träger in der Praxis eine Ordnungswidrigkeit darstellt“, erklärt die gematik.
Der KBV wurde in einem Schreiben des Bundesgesundheitsministeriums zugesichert, dass es im dritten Quartal für die Praxen zu keinen Sanktionen (1 % Vergütungsabzug) kommt, wenn diese unverschuldet nicht „ePA-ready“ sind. „Das heißt, wenn sie zumindest einen Antrag für einen elektronischen Heilberufeausweis gestellt haben und/oder für die Praxis noch kein Update des PVS-Herstellers vorliegt“, erläutert KBV-Pressesprecher Dr. Roland Stahl.
Die Anbieter hatten zuletzt alle Hände voll zu tun, um den digitalen Impfnachweis in ihren Programmen umzusetzen. Bis Mitte Juni war von der gematik erst ein ePA-Konnektor-Update (von drei am Markt aktiven Herstellern) zertifiziert worden. PVS-Marktführer CompuGroup Medical teilt mit, sich in der abschließenden Phase des Feldtests zu befinden. Das Unternehmen sieht hinsichtlich der praktischen Nutzbarkeit der ePA in den Praxen vor allem die PIN-Vergabe an die Patienten durch die Krankenkassen als relevanten Faktor an.
„Eine Berechtigung für den Zugriff eines Arztes auf die ePA eines Patienten wird weder schriftlich noch mündlich erteilt. Der Patient verwaltet und vergibt Berechtigungen entweder über die entsprechende ePA-App seiner Krankenkasse oder über das Kartenterminal in der Praxis vor Ort unter Nutzung seiner elektronischen Gesundheitskarte und dem persönlichen PIN“, erläutert die gematik.
Bereit sein für eAU und eRezept
Auf der eGK wird die ePA nicht gespeichert, sie dient lediglich der Authentifizierung. Dementsprechend „hängt der Zugriff eines Arztes auf eine Akte nicht an der physischen Anwesenheit eines Patienten in der Praxis ... Solange eine Berechtigung durch einen Patienten für eine Praxis vorliegt, kann auf die Daten zugegriffen werden. Dies kann sowohl vor, während oder nach der Konsultation sein.“ Solche Details erklärt die gematik in einem Fragen-und-Antworten-Katalog und mit YouTube-Videos.
Die Techniker Krankenkasse, die bereits seit 2018 ihre ePA als „TK-Safe“ vertreibt, meldete Mitte Juni 147.000 Nutzer – bei 10,7 Mio. Versicherten. „Wir informieren seit dem Start über alle unsere Kanäle“, teilt die Pressestelle mit. Ein Sprecher der AOK Baden-Württemberg kündigt an, dass die Kasse ihre Versicherten im zweiten Halbjahr 2021 verstärkt zur ePA informieren wird. Momentan hätten die Arztpraxen mit den Coronaimpfungen anderes zu tun, sortiert die Kasse die Prioritäten.
Laut KBV sind die Praxen „nahezu vollständig“ an die Telematikinfrastruktur (TI) angeschlossen. „Das ist auch gut so. Denn spätestens, wenn mit der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung und dem elektronischen Rezept die Massenanwendungen für die Praxen Pflicht werden, funktioniert dies nur in der TI“, betont KBV-Sprecher Dr. Stahl.
Von einem „großen ePA-Run auf die Praxen zum 1. Juli“ geht die Körperschaft nicht aus. Einen wirklichen Mehrwert biete die ePA ohnehin erst ab 2022. Nämlich dann, wenn die „medizinischen Informationsobjekte“, z.B. Impfpass, Mutterpass, Zahnbonusheft in digitaler Form, dazukommen.
Welche Details beim Befüllen der ePA mit Befunden, Diagnosen, Therapiemaßnahmen, Behandlungsberichten, Medikationsplan und Notfalldatensatz zu beachten sind, hat die KBV auf ihrer Webseite zusammengetragen. So betrifft z.B. die Pflicht zur Dokumentenspeicherung nur den aktuellen Behandlungskontext. Und die Beratung über die ePA selbst ist eine Kassenaufgabe. Auch die Abrechnung und die Erstattung der Technikkosten erklärt die KBV in einer Praxisinfo.
Zugriff übers Smartphone ist sicherheitsanfällig
Etliche Ärzte und Psychotherapeuten, „die sich aus berufsethischen und Datenschutzgründen nicht an die TI anschließen lassen“, sehen die ePA kritisch. So haben sich zehn Gruppierungen, darunter das „Bündnis für Datenschutz und Schweigepflicht“ sowie die Freie Ärzteschaft, an den Sachverständigenrat (SVR) fürs Gesundheitswesen gewandt. Sie mahnen: „Ist das System der zentralen digitalen Speicherung einmal implementiert, können Zugriffsrechte per Gesetz jederzeit erweitert werden. Nicht zuletzt sind Zugriffe vom Smartphone aus besonders sicherheitsanfällig und Menschen ohne moderne Endgeräte von der Nutzung ausgeschlossen.“
Konkret richtet sich die Kritik gegen den Vorschlag des SVR, für die ePA eine Opt-out-Regelung einzuführen, damit mehr Menschen – möglichst lebenslang – eine ePA haben und diese für die Ärzte praktische Relevanz erhält. Zudem erhofft sich der SVR davon Daten für die Forschung. Seine Kritiker kontern: „Heute können wir Ärzte und Psychotherapeuten integer versichern, dass Daten bei uns verwahrt bleiben, solange die Patienten uns nicht von unserer Schweigepflicht entbinden. Mit der ePA, noch dazu automatisch angelegt per Geburt oder Zuzug, entziehen Sie uns den Boden für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit unseren Patienten.“
Von Estland, Dänemark und Frankreich lernen
Der SVR-Vorsitzende, der Frankfurter Allgemeinmediziner Professor Dr. Ferdinand Gerlach, und seine Kolleginnen und Kollegen argumentieren, dass der Datenschutz nicht nur ein „Abwehrrecht“ gegen Datenmissbrauch sei, sondern auch im Sinne der informationellen Selbstbestimmung und der Solidarität als Recht auf Datenverarbeitung zu verstehen sei. In anderen Ländern, etwa Estland und Dänemark, hätten die Menschen den individuellen und gesellschaftlichen Nutzen erkannt.
Selbstverständlich spricht sich der SVR für technische Sicherheitsmaßnahmen wie Ende-zu-Ende-Verschlüsselung und ein Identitätsmanagement aus. Der ePA-Inhaber müsse wissen, wer sich welche Teile in seiner Akte angesehen habe. Datenmissbrauch sei mit scharfen Regelungen, ähnlich wie beim Gendiagnostikgesetz, Strafverfolgung und Sanktionen zu begegnen.
Der Rat hält aber das Opt-in-Verfahren – bei dem der Versicherte jeweils der Einsichtnahme und Eingabe zustimmen muss – für zu kompliziert. In Frankreich sei das Opt-in-System gescheitert, diesen Fehler müsse man nicht wiederholen.
Ein Opt-out-Verfahren, bei dem sich ein Versicherter explizit gegen die ePA oder für die Verschattung von Inhalten aussprechen müsste, würde für mehr Potenzial sorgen. Behandlungsdaten, die in der solidarisch finanzierten Gesundheitsversorgung ohnehin dokumentiert würden, sollten über die ePA pseudonymisiert an eine zentrale „Sammelstelle“ weitergeleitet werden, die diese verwaltet und für Forschungszwecke bereitstellt. „Daten müssen in die richtigen Hände gelangen können“, sagt Prof. Gerlach. Kein anderes EU-Land lege die gemeinsame Datenschutzgrundverordnung restriktiver aus als Deutschland.
Der SVR wünscht sich dazu vom Gesetzgeber nach der Bundestagswahl ein „Gesundheitsdatennutzungsgesetz“. Der Bundesgesundheitsminister kann sich das auch vorstellen. Spahn meint sogar, jeder Bürger sollte einen gesetzlichen Anspruch auf eine „eindeutige digitale Identität“ haben, die die Sozialversicherungsnummer, Steuernummer etc. obsolet macht. Die ePA sei noch nicht perfekt, gibt Spahn zu. Wichtig ist ihm aber, nach 16 Jahren endlich damit angefangen zu haben und sie künftig zu erweitern. Schade nur, dass der digitale Impfpass erst 2022 inkludiert wird.
Die Vorstandsvorsitzende des GKV-Spitzenverbandes, Dr. Doris Pfeiffer, warnt davor, den Start der ePA – die sie als die „Königsdisziplin der digitalen Anwendungen“ bezeichnet – mit einer verunsichernden Diskussion über einen Wechsel der Methodik zu belasten. KBV-Vorstandsmitglied Dr. Thomas Kriedel wiederum verweist auf die Notwendigkeit, eine parallele professionelle Datenvermittlung zwischen den Leistungserbringern aufrecht zu erhalten, da diese sich nicht auf die Vollständigkeit der ePA verlassen können. Die Akzeptanz und Nutzung der ePA werde davon abhängen, ob Ärzte und Patienten eine Versorgungsverbesserung mit ihr in Verbindung bringen.
Medical-Tribune-Bericht