Behandlung von Kindern und Jugendlichen Niedergelassene berichten von den Sprachbarrieren, vor denen sie stehen
Ich kann mit 30 bis 50 % meiner Patientinnen und Patienten nicht richtig kommunizieren, da diese keine ausreichenden Deutschkenntnisse besitzen“, sagt Dr. Soraya Seyyedi, Kinderärztin in einer Gemeinschaftspraxis in Wiesbaden und Pressesprecherin des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte in Hessen. Das sei auch eine Folge der Flüchtlingswelle 2015/16 und der Flucht der ukrainischen Familien mit Beginn des Krieges.
Der Versuch, die Traumata der Familien adäquat zu behandeln, überfordere. Im besten Fall stehe ein professioneller Dolmetscher mit medizinischer Erfahrung zur Verfügung. „Es gab mal ein Programm mit telefonischen Dolmetschern, das jedoch wieder eingestampft wurde – mit der Begründung, dass die finanziellen Mittel ausgeschöpft seien“, so Dr. Seyyedi. In der Realität müssten meistens Kinder oder andere Angehörige übersetzen. „Die ukrainischen Familien nutzen häufig auch digitale Übersetzer.“ Stößt eine Ärztin oder ein Arzt an sprachliche Grenzen, wird eventuell eine MFA zu Rate gezogen. Dr. Seyyedi spricht fließend Deutsch und Englisch, beherrscht Französisch und hat Kenntnisse in Türkisch und Farsi. „Ich mache sehr viele Vorsorgen auf Englisch“, berichtet sie.
Nur ein kräftiges Kind ist ein gesundes Kind?
Manchmal seien die Vorstellungen der Eltern oder Großeltern diametral zu ihrem medizinischen Fachwissen, erzählt die Ärztin. „Eltern sagen, dass ihr Kind zu dünn sei, obwohl es ein normales Gewicht aufweist.“ Vor allem in südeuropäischen Kulturen und im orientalischen Umfeld sei die Vorstellung, dass nur ein kräftiges Kind ein gesundes Kind ist, weit verbreitet; Übergewicht werde mit Wohlstand assoziiert. „Das Kind kann sich teilweise nicht mehr die Schuhe binden oder kommt nicht auf die Liege, aber für die Eltern ist es kerngesund.“
Dr. Seyyedi erinnert sich an eine türkischstämmige Mutter, die sich darüber aufregte, dass ihr Kind im ersten Winter im Kindergarten häufig erkältet war. „Sie sagte, das liege daran, dass die Erzieherinnen und Erzieher das Kind bei jedem Wetter rausschicken würden. Ich habe versucht, ihr zu erklären, dass bei 20 Kindern mit Erkältungen, Bindehautentzündungen und Durchfall, die sich gemeinsam in einem Zimmer aufhalten, ein maximaler Inkubator entsteht und dass zehn bis zwölf Infekte pro Jahr bei Kleinkindern ganz normal sind.“
Wenn man solche Dinge sensibel bespreche, lasse sich viel bewirken. „Als Kinder- und Jugendarzt hat man das Kind meist von Geburt an als Patienten und baut eine vertrauensvolle Beziehung zu ihm und seiner Familie auf. Vor allem für Menschen mit Migrationshintergrund sind Ärztinnen und Ärzte eine Instanz, die respektiert wird“, so Dr. Seyyedi.
„Wenn keine adäquate Übersetzung stattfindet oder man sich nicht davon überzeugt, dass das Gegenüber verstanden hat, was man als medizinische Maßnahme plant, ist das, was man tut, illegal“, sagt Dr. Barbara Mühlfeld, Kinder- und Jugendärztin sowie Menschenrechts-, Diskriminierungs- und Rassismus-Beauftragte der LÄK Hessen. Komme es dann zu Komplikationen und die Ärztin oder der Arzt könne nicht nachweisen, dass die Familie ordentlich aufgeklärt wurde, bestehe ein Haftungsrisiko.
Dolmetscher müssten gut über die Herkunftskultur der Patientinnen und Patienten informiert sein. Sie dürften nicht nur die Worte übersetzen, sondern auch Sprachmittlung betreiben, so Dr. Mühlfeld. Da sie keine Mediziner seien, sei es für sie schwierig, schwerwiegende Nachrichten zu überbringen oder detaillierte intime Fragen zu stellen.
Dr. Christof Stork, Mitglied der Delegiertenversammlung der LÄK Hessen, liefert ein Beispiel: In seine Praxis sei 2015/16 eine junge Frau aus dem Sudan gekommen, die dort mutmaßlich vergewaltigt wurde. „Ich hatte mich bemüht, über eine ehrenamtliche Organisation in Wiesbaden dolmetschen zu lassen. Es wurde ein junger Mann aus Äthiopien fürs Dolmetschen geschickt – und das war fatal.“ Die ganze Angelegenheit verlief nicht erfolgreich und die Frau verschwand letztendlich aus ihrem Flüchtlingsquartier. Insgesamt seien Dolmetscher aber eine große Hilfe.
„Ärzte, Kinder und Eltern benötigen Unterstützung, damit eine gute und sichere Behandlung möglich ist“, betont Dr. Peter Zürner, Mitglied des Kammerpräsidiums. „Es ist eine verlässliche Struktur mit professionellen Übersetzerinnen und Übersetzern, die von den Kassen finanziert werden, erforderlich.“