Wird die Time in Range zusätzlich zum HbA1c neuer Goldstandard?

diatec journal Autor: Dr. Andreas Thomas/Prof. Dr. Lutz Heinemann

Die Technologie verändert die Therapieziele. Die Technologie verändert die Therapieziele. © lukszczepanski – stock.adobe.com

Die Interpretationsmöglichkeiten von CGM-Daten sind inzwischen kein Nischenthema mehr. Denn die Einstellung lässt sich mit Glukosetagesprofilen und Time in Range (TiR) völlig neu betrachten. Ausgedient hat der HbA1c jedoch nicht.

Zweifellos stehen in der Diabeteswelt von technologischer Seite das kontinuierliche Glukosemonitoring (CGM) und aktuell die automatisierte Insulinzufuhr (AID-Systeme; automated insulin delivery) im Mittelpunkt. Dabei stellt eine gute Leistungsfähigkeit der erstgenannten Technologie die Voraussetzung für die zweite dar.

Zudem erfährt CGM ein breites Interesse – so auch auf dem diesjährigen Kongress der European Association for the Study of Diabetes (EASD) – weil durch die lückenlose Erfassung der Glukosedaten die Diabetestherapie datenbasiert gestaltet werden kann. Dies hat zu einer neuen Auffassung über die Beurteilung der Güte der glykämischen Regulation geführt. Erfreulicherweise ist in vielen europäischen Ländern die Kostenerstattung für CGM durch die jeweiligen Gesundheitssysteme gegeben. Grundsätzlich entwickelt sich CGM zu einer Standardmethode bezüglich Diagnostik und Therapieunterstützung. Auf einige der beim EASD vorgestellten Untersuchungen zum Thema CGM wird nachfolgend eingegangen.

Parameter zum Therapie­monitoring hinterfragt

Die Beschäftigung mit CGM-Profilen hat zu einer Diskussion über neue Parameter zur Beurteilung des Therapieerfolges geführt, was sich durch viele Sitzungen auf dem gesamten EASD zog und nicht auf die wenigen mit dem Schwerpunkt CGM beschränkt blieb.

Einer dieser neuen Parameter, die Time in Range (TiR; Zeit im Zielbereich von 70–180 mg/dl), etabliert sich neben dem HbA1c mehr und mehr zur Beurteilung des Therapieerfolges. Daraus ergeben sich Fragen:

  • Kann die TiR als alleiniger, neuer „Goldstandard“ gesehen werden?
  • Ist die HbA1c-Messung obsolet – ein Parameter, für den der Zusammenhang mit diabetischen Folgeerkrankungen nachgewiesen ist?

Diskussionsbedarf zu Korre­lation zwischen TiR und HbA1c

Auch wenn sich prominente Vortragende, wie Professor Dr. Richard M. Bergenstal, University of Minnesota, Minneapolis, dafür aussprechen, so ist das doch kontrovers zu diskutieren.

Zwar existieren Untersuchungen, welche den HbA1c-Wert aus der TiR ableiten und dabei sogar eine statistisch gute Korrelation aufweisen, aber bei genauerem Hinsehen ergibt sich eine beträchtliche Vielfalt an HbA1c-Werten für gleiche TiR-Werte – und umgekehrt eine breite Streuung von TiR-Werten für einen festgelegten HbA1c. Es ist ausgesprochen sinnvoll, CGM einzusetzen, weil die TiR eine gute und nachvollziehbare Grundlage für die Diskussion der aktuellen Therapieergebnisse mit den Patienten liefert.

Fortschritt abseits von Europa

Beim Vergleich beider Kongresse ADA und EASD fallen zwei Dinge auf: Während die Teilnehmerzahl auf dem ADA rückgängig ist (in den letzten Jahren von 18 000 auf ca. 15 000), bleibt sie auf dem EASD seit Jahren konstant und belief sich diesmal auf 15 300. Der zweite – und eigentlich wichtigere – Aspekt betrifft die Themen des diatec journals, Diabetestechnologie und Digitalisierung. Auf dem ADA gab es zu dazu 425 Vorträge und Poster, was 17 % aller Beiträge betrifft. Auf dem EASD widmeten sich nur zwei der 48 Sitzungen diesen Themen, also 10 von 265 mündlichen Präsentationen (4 %). Ähnlich die Situation bei den Postersitzungen: von 103 Sitzungen gab es nur zwei mit der Orientierung Diabetestechnologie und eine zur Digitalisierung (mit 28 von 930 Postern; 3 %). Natürlich ist die Themenpalette auf dem EASD breit, von Metabolismus über Pathophysiologie, Genetik, Therapie, neue Medikamente, Begleit- und Folgeerkrankungen des Diabetes u.a.m., aber diese Breite hat der ADA auch. Angesichts der zunehmenden Bedeutung von Diabetestechnologie und Digitalisierung für die Diagnostik, Therapieunterstützung und -steuerung, nicht nur für die Betreuung von Patienten mit Typ-1-Diabetes, ergibt sich die Schlussfolgerung, dass der Fortschritt abseits von Europa geschieht, Europa aber durch die Präsenz der amerikanischen Firmen wenigstens versorgt wird und die Technologie erfolgreich einsetzt.

In diesem Sinne wurden auch mehrfach die Konsensus-Statements der ADA*/EASD von 2018 und des ATTD** 2019 und die dort festgelegten Kenn­zahlen für den TiR diskutiert. Die TiR ist sicher ein neuer „Goldstandard“, aber zusätzlich zum HbA1c. Letzterer ist insbesondere ein von der Methode CGM unabhängiger Messparameter, trotz seiner Beschränkungen insbesondere in Bezug auf die nicht mögliche Charakterisierung von Hypoglyk­ämien und der glykämischen Variabilität.

Verblindete CGM-Geräte ohne Patientenbias

Im Zusammenhang mit CGM werden meist real-time CGM (rtCGM) bzw. intermittierend scannendes CGM (iscCGM) gesehen. Allerdings gibt es auch eine beträchtliche Relevanz bezüglich des verblindeten, also des rein diagnostischen CGM (im englischen als „Professional CGM“ bezeichnet). Einerseits steht weder allen Patienten mit Typ-1-Diabetes und schon gar nicht denjenigen mit Typ-2-Diabetes ein „offenes“ CGM zur Verfügung, womit Daten aus dem Therapiealltag erhalten werden. Andererseits führt ein verblindetes CGM zu Messergebnissen, die nicht wie beim rtCGM von dem Patienten beeinflusst sind, weil er nun zusätzliche Informationen zur Therapieanpassung durch die Messung bekommt. Das verblindete CGM zeigt die Therapie unter den gegebenen Bedingungen, ähnlich wie ein Langzeit-EKG. Aus diesem Grund befindet sich mit dem iPro™ 2 (Medtronic) ein solches System auf dem Markt. Es lässt sich auch mit dem System Dexcom G4® (Dexcom) verblinden. Weiterhin bieten alle drei großen CGM-Hersteller diesbezüglich neue Systeme: den FreeStyle Libre Pro (Abbott), den Envision™ Pro (Med­tronic) und den Dexcom G6® Pro (Dexcom). Einige dieser Systeme wurden beim EASD auf der Industrieausstellung vorgestellt. Allen Systemen ist zu eigen, dass sie nicht kalibriert werden müssen und dass sich an den Patienten keine Anforderungen bezüglich der Handhabung ergeben. Der Glukosesensor wird gelegt, der Rekorder angeschlossen und anschließend dem Arzt übergeben (oder über eine App ausgelesen).

CGM diagnostisch durchaus relevant

Gerade Patienten mit Typ-2-Diabetes können von dem kurzzeitigen Einsatz eines verblindeten Systems profitieren, so das Ergebnis einer Studie.1 Die Forscher untersuchten bei 69 Patienten mit Typ-2-Diabetes (Alter: 63 ± 9 Jahre, HbA1c: 8,4 ± 0,7 %) die Hypoglykämieraten. 26 % der Patienten wurden ausschließlich mit oralen Antidiabetika (OAD) behandelt, die anderen 74 % erhielten eine Kombination von Insulin und OAD. Die Messungen über sechs Tage zeig­ten, dass in dieser kurzen Zeit 28 Patienten (40,6 %) Hypoglyk­ämien aufwiesen. Fünf davon nahmen insulinotrope OAD ein. Bei 16 der 28 Patienten (57 %) traten die Hypoglyk­ämien nachts auf, zwei davon hatten nur OAD. Diese Werte in nur sechs Tagen zeigen die Relevanz des diagnostischen CGM bei einer Patientengruppe auf, die sonst eher selten rtCGM verwendet. Ebenfalls mit einem verblindeten CGM-System wurde ein Teil der Patienten mit Typ-1-Diabetes (Alter: 59 ± 7 Jahre, HbA1c: 7,8 ± 1,2 %) charakterisiert, die in den 1980er/90er-Jahren an der DCCT-Studie teilgenommen hatten und seitdem in der nachfolgenden EDIC-Studie beobachtet werden.2 In den CGM-Profilen wurde nach typischen Mustern gesucht. Weiterhin wurden Korrelationen geprüft, z.B. zwischen der TiR und den gleichzeitig gemessenen HbA1c-Werten. Insgesamt trugen 771 DCCT/EDIC-Teilnehmer das verblindete CGM über 12,6 ± 1,9 Tage. Aus den Messungen ergeben sich verschiedene Parameter, wie die mittlere Glukose, der Variationskoeffizient, die TiR von 70–180 mg/dl und der prozentuale Zeitanteil bei hypoglykämischen (< 54 mg/dl; < 70 mg/dl) und hyperglykämischen Werten (> 180 mg/dl; > 250 mg/dl). Untersucht wurden die Daten separat für den Tag (6:00 bis 23:59 Uhr) und die Nacht (0:00 bis 5:59 Uhr). 28 % der Teilnehmer führten eine Insulinpumpentherapie (CSII) durch, Patienten mit sensorunterstützter Pumpentherapie wurden ausgeschlossen. Tagsüber betrug der mittlere Glukosewert 173,2 ± 38,4 mg/dl, die TiR 51,0 ± 14,7 % und der Zeitanteil < 70 mg/dl 8,1 ± 7,3 %. Im Vergleich dazu lag der mittlere Glukosewert nachts niedriger (159,5 ± 43,0 mg/dl) bei ähnlicher TiR (51,3 ± 17,5 %). Allerdings gab es mehr nächtliche Hypoglykämien (Anteil Zeit < 70 %: 13,0 ± 12,9 %). Klinisch signifikante Hypoglykämien (Anteil Zeit < 54 mg/dl) traten während der Nacht ebenfalls häufiger auf (7,2 ± 9,3 %) als tagsüber (3,5 ± 4,6 %). Die Korrelation von TiR und HbA1c ergab, dass eine TiR von 50 % etwa einem HbA1c von 7,9 % entspricht. Die DCCT/EDIC-Kohorte zeigte in den nächtlichen CGM-Profilen ausgeprägte Muster von klinisch signifikanten Hypoglykämien (< 54 mg/dl).

Weniger Hypoglykämien bei Älteren mit Typ-1-Diabetes

Dass die Nutzung von rtCGM-Systemen Hypoglykämien reduziert, wurde in verschiedenen Studien gezeigt, wie der HypoDE-Studie. Die Frage besteht, ob dies auch für ältere Patienten mit Typ-1-Diabetes (> 60 Jahre) zutrifft. Dies versuchten Miller et al. in einer randomisierten, kontrollierten Studie über sechs Monate zu beantworten.3 206 Patienten (medianes Alter: 68 Jahre, mittlere Diabetesdauer: 39 Jahre, mittlerer HbA1c: 7,5 %, Pumpenerfahrung: 53 %, CGM-Erfahrung: 44 %) wurden 1:1 randomisiert in eine Gruppe mit Therapieunterstützung durch ein rtCGM-System vs. eine Gruppe mit alleiniger Blutglukoseselbstmessung (SMBG). Zu Beginn der Studie wurde in beiden Gruppen ein verblindetes CGM-System angewendet. Die rtCGM-Daten in der Interventionsgruppe wurden nach jeweils 8, 16 und 26 Wochen analysiert. Primärparameter war der Anteil der Glukosewerte < 70 mg/dl.

rtCGM verbesserte TiR im Vergleich zur Selbstmessung

Im Ergebnis führte die Nutzung des rtCGM-Systems zu einer signifikanten Reduktion der Zeitanteile im hypoglykämischen Glukosebereich (Zeit < 70 mg/dl: rtCGM: -2,4 % von 5,1 auf 2,7 %; SMBG: +0,2 % von 4,7 auf 4,9 %) und zu einer niedrigeren Rate an schweren Hypoglykämien – ein Ereignis unter rtCGM vs. elf Ereignisse unter SMBG. Die TiR erhöhte sich unter rtCGM von 56 auf 63 %, während sie unter SMBG ähnlich blieb (von 56 auf 54 %). rtCGM verhindert also auch bei älteren Patienten hypoglykämische Ereignisse. Es kann erwartet werden, dass die Anwendung des iscCGM-Systems ebenfalls zu einer Verminderung von Hypoglykämien führt, vorausgesetzt der Patient scannt seine Glukosewerte hinreichend häufig. Verschiedene Beobachtungsstudien belegten dies. Nicht so die randomisierte, kontrollierte IMPACT-Studie, in der sich jedoch der HbA1c-Wert verringerte. Unterschiedlich waren auch die Ergebnisse zur Lebensqualität in ausgewählten Populationen. In der zwölfmonatigen prospektiven, multizentrischen „Future“-Studie4 wurden bei einer unselektionierten Patientengruppe mit Typ-1-Diabetes die Auswirkungen der Nutzung des iscCGM- Systems auf die Lebensqualität (QoL) und die glyk­ämische Kontrolle untersucht. Von den 1913 Teilnehmern (Alter 46 ± 15 Jahre, Diabetesdauer 23 ± 14 Jahre, 22 % behandelt mit CSII, HbA1c: 7,8 ± 1,2 %) verwendeten 1686 (88 %) das iscCGM-System über mindestens zwölf Monate. 150 legten das System in dieser Zeit wieder ab. Die Werte für die QoL, erhoben mittels SF-36-Fragebogen, waren bereits bei Studienbeginn hoch und blieben stabil. Die Zufriedenheit nach Diabetes Treatment Satisfaction Questionnaire (DTSQ) verbesserte sich von 27,9 ± 5,2 auf 30,0 ± 4,3 Punkte. Der durchschnittliche HbA1c-Wert der Gesamtpopulation war gleichbleibend, wobei sich die Patienten mit hohem Ausgangs-HbA1c etwas verbesserten (von 8,8 ± 0,9 auf 8,5 ± 1,1 %). Schwere hypoglykämische Ereignisse traten seltener auf (Baseline: 18 %; nach 12 Monaten: 10 %). Die damit verbundene Verkürzung der Zeit im hypoglykämischen Bereich hatte eine Erhöhung des Zeitanteils über 180 mg/dl (39,6 ± 15,8 vs. 41,7 ± 16,9 %) zur Folge. Die TiR betrug nach zwölf Monaten 50,6 ± 14,8 % (Baseline: 51,5 ± 13,8 %). Die Nutzung des iscCGM-Systems führte zu einer hohen Behandlungszufriedenheit mit weniger schweren Hypoglykämien, so das Fazit. Dies unterstützt auch eine Meta­analyse mit Real-World-Daten von iscCGM-Nutzern.5 Diese umfasste insgesamt 363 Datensätze von Patienten mit Typ-2-Diabetes (Alter: 63,5 ± 11,0 Jahre) aus 18 Zentren in Österreich, Frankreich und Deutschland. 67,8 % der Patienten erhielten neben Insulin OAD. Die HbA1c-Werte wurden zwischen 90 und 194 Tagen ab Beginn der Nutzung des iscCGM-Systems erfasst.

iscCGM-Nutzung senkte HbA1c bei Diabetes Typ 2

Im Mittel über alle Datensätze hinweg verringerte sich der HbA1c um 0,9 Prozentpunkte (von 8,9 ± 0,9 auf 8,0 ± 1,0 %). Zwischen den drei Ländern konnte keine Heterogenität festgestellt werden. Ebenso ließen sich keine signifikanten Unterschiede mit Blick auf Alter, Geschlecht, BMI oder Dauer der Insulinanwendung feststellen. Die Autoren schlussfolgern, dass auch insulinbehandelte Patienten mit Typ-2-Diabetes durch einen gesenkten HbA1c von iscCGM profitieren. Grundsätzlich zeigten die auf dem EASD vorgestellten Studien die Vorteile von rtCGM und iscCGM bei einer großen mit Insulin behandelten Patientenpopulation. Die Methode entwickelt sich schrittweise zum Standard in der Therapieunterstützung.

*American Diabetes Association
**Advanced Technologies & Treatments for Diabetes

Quellen:
1 Szymanska-Garbacz E et al. EASD 2019, #797
2 Gubitosi-Klug RA et al. EASD 2019, #39
3 Miller K et al. EASD 2019, #42
4 Charleer S et al. EASD 2019, #222
5 Kröger J et al. EASD 2019, #224

Kongressbericht: EASD 2019