Ältere Diabetespatienten benötigen differenzierte Behandlungsziele
Etwa ein Fünftel der über 70-Jährigen leidet an Diabetes. Die Mehrheit dieser „Alten“ ist noch relativ selbstständig und bedarf keiner externen Hilfe. Stattdessen erweist sich in diesem Fall der Begriff „alt“ als sehr unspezifisch und somit ungeeignet für die Differenzierung medizinischer Behandlungsziele, schreibt Dr. Jürgen Wernecke von der Klinik für Diabetologie des Agaplesion Diakonieklinikums Hamburg. Eine Unterscheidung in geriatrische und nicht-geriatrische Patienten mache viel mehr Sinn.
Geldzähltest nach Nikolaus verrät geriatrische Syndrome
Die Praxisleitlinie 2018 der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) „Diabetes im Alter“ empfiehlt die Patienten in drei Gruppen einzuteilen:
- Funktionell unabhängig: guter funktioneller Status, wenig Komorbiditäten, geringe kognitive Einschränkungen, gute Kompensationsmöglichkeiten
- Funktionell leicht abhängig: eingeschränkter funktioneller Status, Multimorbidität, kognitive Einschränkungen, geriatrische Syndrome
- Funktionell stark abhängig: extrem eingeschränkter funktioneller Status oder terminal erkrankt (limitierte Lebensprognose), Multimorbidität, geriatrische Symptome, ausgeprägte kognitive Einschränkungen
Die Behandlung älterer Diabetiker zielt primär darauf ab, die Lebensqualität zu erhalten oder sogar zu steigern. Am häufigsten fürchten die Patienten durch die chronische Krankheit ihren selbstständigen, unabhängigen Lebensstil in der eigenen Umgebung zu verlieren. Deshalb sollte die Therapie gemeinsam mit dem Patienten geplant werden und individuelle Wünsche berücksichtigen. Als besonders wichtig stuft Dr. Wernecke die frühzeitige Erfassung geriatrischer Syndrome ein. Dazu eignet sich beispielsweise der Geldzähltest nach Nikolaus, ein einfacher Praxistest zur Kontrolle mehrerer wichtiger funktioneller Fähigkeiten im Alter.
Therapien mit geringem Hypoglykämierisiko wählen
Zwar verliert Diabetes als kardiovaskulärer Risikofaktor mit zunehmendem Alter an Bedeutung, dennoch darf eine gute Stoffwechseleinstellung nicht vernachlässigt werden. Insbesondere schwere Hypoglykämien und chronisch erhöhte Blutzuckerwerte gilt es zu vermeiden, da diese wiederum diabetische Folgeschäden (z.B. geriatrische Syndrome) erheblich verschlechtern können – und umgekehrt. Aus diesem Grund sind Therapieformen mit vermindertem Hypoglykämierisiko zu bevorzugen, die den Patienten möglichst wenig belasten (geringe Nebenwirkungen, keine Multimedikation).
Im Gegensatz zu jüngeren Diabetikern erscheint das Vermeiden von klassischen diabetischen Folgekomplikationen bei alten Menschen nicht mehr realistisch. Dennoch müssen Augen, Nierenfunktion sowie die Füße bei diabetischer Polyneuropathie und/oder PAVK regelmäßig kontrolliert werden, um klassische Komplikationen (wie Erblindung, Amputation, Dialyse) zu vermeiden sowie bestehende Erkrankungen zu behandeln. Zu den häufigsten diabetischen Folgeschäden zählen:
- Diabetisches Fußsyndrom
- Hypoglykämien
- Geriatrische Syndrome (Gebrechlichkeit, Depression, Demenz, Inkontinenz)
- Hypertonie
- Dyslipidämie
Das pauschale Motto „je niedriger, desto besser“ war gestern – mittlerweile empfehlen nationale sowie internationale Leitlinien für ältere Menschen individualisierte Therapieziele in puncto Blutdruck, Glukosestoffwechsel und Lipidstatus. Dabei spielen Faktoren wie die geschätzte Lebenserwartung, kognitive Funktionen und das Hypoglykämierisiko durch die Behandlung eine entscheidende Rolle, was sich auch in der aktuellen S2k-Leitlinie der Deutschen Diabetes Gesellschaft widerspiegelt (s. Kasten).
Therapieziele für ältere Diabetiker
- Wenig Begleiterkrankungen, kognitiv nicht eingeschränkt, Lebenserwartung > 15 Jahre: HbA1c 6,5–7,5 %, BZ vor den Mahlzeiten 100–125 mg/dl, Blutdruck < 140/< 85 mmHg
- Hohes Alter oder multimorbide oder kognitiv leicht eingeschränkt, Lebenserwartung < 15 Jahre: HbA1c < 8,0 %, BZ vor den Mahlzeiten 100–150 mg/dl, Blutdruck 140–150/< 90 mmHg
- Pflegebedürftig oder kognitiv stark eingeschränkt, begrenzte Lebenserwartung: HbA1c < 8,5 %, BZ vor den Mahlzeiten 100–180 mg/dl, Blutdruck individuell
Betagte profitieren von Schulungen
Die differenzierten Therapieziele versucht man den Patienten über Schulungen (z.B. strukturierte geriatrische Schulung) zu vermitteln. Auf diese Weise lässt sich neben Therapieverständnis und -adhärenz eine Kompetenzsteigerung der Betroffenen, der Angehörigen sowie der Pflegekräfte erreichen und das Krankheitsstigma verringern.Quelle: Wernecke J. internistische praxis 2019; 61: 463-473