Akutes Aortensyndrom: Praxistaugliches Schema zur schnellen Risikoeinschätzung
Von der Dissektion über das intramurale Hämatom bis hin zum penetrierenden atherosklerotischen Ulkus: Unter dem Begriff akutes Aortensyndrom werden ganz unterschiedliche Diagnosen zusammengefasst, unabhängig von der Lokalisation der Gefäßveränderung im Verlauf der Arterien.
Um bei diesem breiten Spektrum das Risiko für Fehldiagnosen zu mindern, hat das Team um den Notfallmediziner Robert Ohle von der Northern Ontario School of Medicine eine Richtlinie erstellt. Die Autoren schlagen vor, für jeden Patienten zunächst die Wahrscheinlichkeit für ein akutes Aortensyndrom zu ermitteln und dabei drei Abstufungen vorzunehmen: Die Gefäßerkrankung ist unwahrscheinlich (< 0,5 %), eher wahrscheinlich (0,5–5 %) oder sehr wahrscheinlich (< 5 %).
Die individuellen Risikofaktoren des Patienten für das akute Aortensyndrom lassen sich bei der Anamnese erfassen. Dazu zählen Bindegewebserkrankungen ebenso wie Aortenklappenfehler, kürzlich durchgeführte Eingriffe an der Hauptschlagader sowie thorakale oder abdominale Aneurysmen. Verdächtig ist auch das Auftreten der Erkrankung bei Verwandten des Patienten.
Weitere wichtige Hinweise liefert die Symptomatik: Typisch für das akute Aortensyndrom ist ein plötzlich aufgetretener Vernichtungsschmerz („wie ein Donnerschlag“), der so nie zuvor erlebt wurde. Er wird oft als reißend, wandernd oder ausstrahlend geschildert.
Ab zwei Punkten sofort in die Röhre! | ||
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Kategorie | Charakteristikum | Punkte |
Risikofaktoren
| kein Risikofaktor zutreffend ein Faktor vorhanden, aber kein Aneurysma Aortenaneurysma | 0
1 2 |
Schmerz
| kein Hochrisikoschmerz ein oder zwei Schmerzmerkmale zutreffend drei und mehr Merkmale zutreffend | 0
1
2 |
Klinische Befunde
| kein Hochrisikobefund ein Risikobefund oder mehr | 0 2 |
Alternative Diagnose | möglicherweise andere Erkrankung Diagnose unsicher akutes Aortensyndrom als wahrscheinlichste Diagnose |
-1 0
1 |
0 Punkte: geringe Wahrscheinlichkeit für das akute Aortensyndrom (< 0,5 %); 1 Punkt: mittlere Wahrscheinlichkeit (0,5–5 %); ab 2 Punkte: hohe Wahrscheinlichkeit (> 5 %) |
Bei der klinischen Untersuchung sprechen neu aufgetretene Aorteninsuffizienz und Pulsdefizit für das Syndrom. Ähnliches gilt für neurologische Ausfälle, Hypotonie und Perikarderguss. Die oft als typisch angesehenen Seitendifferenzen des Blutdrucks treten allerdings auch bei 20 % der Allgemeinbevölkerung auf, schreiben die Experten. Sie können zwar den Verdacht auf ein akutes Aortensyndrom lenken, liefern ihrer Ansicht nach aber keine zusätzlichen Informationen, um die Prätestwahrscheinlichkeit zu bestimmen.
Bei moderatem Risiko die D-Dimere messen
Zur Einschätzung des individuellen Erkrankungsrisikos des Patienten dient ein Punktesystem, das mit einem Punktabzug auch mögliche Differenzialdiagnosen berücksichtigt. Für den Verdachtsfall sollte man im Hinterkopf behalten, dass das akute Koronarsyndrom, Schlaganfall und Lungenembolie häufige Fehldiagnosen beim übersehenen akuten Aortensyndrom sind. Das diagnostische Vorgehen richtet sich nach der Wahrscheinlichkeit für die Gefäßerkrankung:
- Patienten mit niedriger Wahrscheinlichkeit für ein akutes Aortensyndrom (< 0,5 %) bedürfen keiner weiteren Untersuchung.
- Bei moderater Wahrscheinlichkeit (0,5–5 %) sollen zunächst die D-Dimere bestimmt werden. Ist dieser Test nicht möglich oder fällt das Ergebnis positiv aus, folgt ein EKG-gesteuertes CT. Bei negativem Ergebnis im D-Dimer-Test kann man nach Ansicht der Autoren auf eine weitere Diagnostik verzichten.
- Patienten, für die eine hohe Wahrscheinlichkeit für das akute Aortensyndrom ermittelt wurde (> 5 %), sollen sich sofort und ohne vorgeschaltete D-Dimer-Kontrolle einem EKG-gesteuerten CT der Aorta unterziehen.
Das EKG verhindert dabei Bewegungsartefakte, insbesondere an Aortenwurzel und A. ascendens. Die Bildgebung soll mit und ohne Kontrastmittel erfolgen, um intramurale Hämatome auszuschließen. Falls ein CT nicht möglich ist – etwa bei Kontrastmittelallergie oder einer fortgeschrittenen Niereninsuffizienz – bietet sich ersatzweise eine Magnetresonanztomographie oder die transösophageale Echokardiographie an.
Quelle: Ohle R et al. CMAJ 2020; 192: E832-E843; DOI: 10.1503/cmaj.200021