Akutes Aortensyndrom: Praxistaugliches Schema zur schnellen Risikoeinschätzung

Autor: Dr. Dorothea Ranft

Die individuellen Risikofaktoren des Patienten für das akute Aortensyndrom lassen sich bei der Anamnese erfassen. Die individuellen Risikofaktoren des Patienten für das akute Aortensyndrom lassen sich bei der Anamnese erfassen. © Science Photo Library/Du Cane Medical Imaging

Das akute Aortensyndrom wird bei jedem vierten Patienten zunächst übersehen – mit fatalen Folgen, denn das Sterberisiko steigt mit jeder Minute kontinuierlich an. Ein praxistaugliches Schema beschleunigt die Diagnostik.

Von der Dissektion über das intra­murale Hämatom bis hin zum penetrierenden athero­sklerotischen Ulkus: Unter dem Begriff akutes Aortensyndrom werden ganz unterschiedliche Dia­gnosen zusammengefasst, unabhängig von der Lokalisation der Gefäßveränderung im Verlauf der Arterien.

Um bei diesem breiten Spektrum das Risiko für Fehldiagnosen zu mindern, hat das Team um den Notfallmediziner Robert Ohle von der ­Northern ­Ontario School of Medicine eine Richtlinie erstellt. Die Autoren schlagen vor, für jeden Patienten zunächst die Wahrscheinlichkeit für ein akutes Aortensyndrom zu ermitteln und dabei drei Abstufungen vorzunehmen: Die Gefäß­erkrankung ist unwahrscheinlich (< 0,5 %), eher wahrscheinlich (0,5–5 %) oder sehr wahrscheinlich (< 5 %).

Die individuellen Risikofaktoren des Patienten für das akute Aortensyndrom lassen sich bei der Anamnese erfassen. Dazu zählen Bindegewebserkrankungen ebenso wie Aortenklappenfehler, kürzlich durchgeführte Eingriffe an der Hauptschlag­ader sowie thorakale oder abdominale Aneurysmen. Verdächtig ist auch das Auftreten der Erkrankung bei Verwandten des Patienten.

Weitere wichtige Hinweise liefert die Symptomatik: Typisch für das akute Aortensyndrom ist ein plötzlich aufgetretener Vernichtungsschmerz („wie ein Donnerschlag“), der so nie zuvor erlebt wurde. Er wird oft als reißend, wandernd oder ausstrahlend geschildert.

Ab zwei Punkten sofort in die Röhre!
KategorieCharakteristikumPunkte

Risikofaktoren

  • Bindegewebserkrankung
  • Aortenklappenerkrankung
  • Aorteneingriff
  • akutes Aortensyndrom in der Familie

kein Risikofaktor zutreffend

ein Faktor vorhanden, aber kein Aneurysma

Aortenaneurysma

0

 

1

2

Schmerz

  • stark oder so stark wie nie
  • donnerschlagartig oder abrupt
  • reißend
  • wandernd oder ausstrahlend

kein Hochrisikoschmerz

ein oder zwei Schmerzmerkmale zutreffend

drei und mehr Merkmale zutreffend

0

 

1

 

2

Klinische Befunde

  • Pulsdefizit
  • neurologisches Defizit
  • Aorteninsuffizienz
  • Hypotonie/Perikarderguss

kein Hochrisikobefund

ein Risikobefund oder mehr

0

2

Alternative Diagnose

möglicherweise andere Erkrankung

Diagnose unsicher

akutes Aortensyndrom als wahrscheinlichste Diagnose

 

-1

0

 

1

0 Punkte: geringe Wahrscheinlichkeit für das akute Aortensyndrom (< 0,5 %); 1 Punkt: mittlere Wahrscheinlichkeit (0,5–5 %); ab 2 Punkte: hohe Wahrscheinlichkeit (> 5 %)

Bei der klinischen Untersuchung sprechen neu aufgetretene Aorteninsuffizienz und Pulsdefizit für das Syndrom. Ähnliches gilt für neurologische Ausfälle, Hypotonie und Perikarderguss. Die oft als typisch angesehenen Seitendifferenzen des Blutdrucks treten allerdings auch bei 20 % der Allgemeinbevölkerung auf, schreiben die Experten. Sie können zwar den Verdacht auf ein akutes Aortensyndrom lenken, liefern ihrer Ansicht nach aber keine zusätzlichen Informationen, um die Prätestwahrscheinlichkeit zu bestimmen.

Bei moderatem Risiko die ­D-Dimere messen

Zur Einschätzung des individuellen Erkrankungsrisikos des Patienten dient ein Punktesystem, das mit einem Punktabzug auch mögliche Differenzialdiagnosen berücksichtigt. Für den Verdachtsfall sollte man im Hinterkopf behalten, dass das akute Koronarsyndrom, Schlaganfall und Lungenembolie häufige Fehl­diagnosen beim übersehenen akuten Aortensyndrom sind. Das diagnostische Vorgehen richtet sich nach der Wahrscheinlichkeit für die Gefäß­erkrankung:

  • Patienten mit niedriger Wahrscheinlichkeit für ein akutes Aortensyndrom (< 0,5 %) bedürfen keiner weiteren Untersuchung.
  • Bei moderater Wahrscheinlichkeit (­0,5–5 %) sollen zunächst die ­D-Dimere bestimmt werden. Ist dieser Test nicht möglich oder fällt das Ergebnis positiv aus, folgt ein ­EKG-gesteuertes CT. Bei negativem Ergebnis im ­D-Dimer-Test kann man nach Ansicht der Autoren auf eine weitere Diagnostik verzichten.
  • Patienten, für die eine hohe Wahrscheinlichkeit für das akute Aortensyndrom ermittelt wurde (> 5 %), sollen sich sofort und ohne vorgeschaltete D-Dimer-Kontrolle einem ­EKG-gesteuerten CT der ­Aorta unterziehen.

Das EKG verhindert dabei Bewegungsartefakte, insbesondere an Aortenwurzel und A. ­ascendens. Die Bildgebung soll mit und ohne Kontrastmittel erfolgen, um intramurale Hämatome auszuschließen. Falls ein CT nicht möglich ist – etwa bei Kontrastmittelallergie oder einer fortgeschrittenen Niereninsuffizienz – bietet sich ersatzweise eine Magnetresonanztomographie oder die trans­ösophageale Echokardiographie an.

Quelle: Ohle R et al. CMAJ 2020; 192: E832-E843; DOI: 10.1503/cmaj.200021