Tics bei Tourette Soziale Medien vermitteln ein falsches Bild
Seit Beginn der COVID-19-Pandemie tauchen in sozialen Medien gehäuft Videos mit den Schlüsselwörtern „Tic“, „Tourette“ oder „Tourettes“ auf. Es handelt sich dabei aber gar nicht um typische Tics als Tourette-Symptome, sondern um eine durch soziale Medien vermittelte Massenhysterie, zeigt sich Prof. Dr. Kirsten Müller-Vahl von der Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Psychotherapie der Medizinischen Hochschule Hannover überzeugt. Eine Influencerin mit dem Kanal „thistrippyhippie“ auf TikTok, Instagram und Facebook ist das prominenteste Gesicht der neuen funktionellen Störung. Regelmäßig können Hunderttausende Nutzer der Protagonistin bei ihren angeblichen Tourette-Attacken zusehen.
Die in den Videos präsentierten Symptome unterscheiden sich aber deutlich von Tics, betonte Prof. Müller-Vahl: Kopf nach hinten werfen, Arme anwinkeln und „Whoo“ rufen, mit der Faust auf die andere Hand schlagen oder Objekte durch die Gegend werfen, „Bitch“ rufen und Küsschen in die Welt senden – das ist nicht typisch für Patienten mit Tourette-Syndrom.1 Auffällig: Die Symptome anderer von dieser funktionellen Störung Betroffener gleichen denen der Influencerin. Im englischsprachigen Raum dominieren auf den Kanälen junge Frauen.
In Deutschland ist der Influencer, der die Indexperson für die neuartige funktionelle Störung darstellt, allerdings männlich – und so findet sich in Deutschland auch eine ausgeglichenes Geschlechterverhältnis unter den Betroffenen.
Vokalisation „Pommes“ gibt’s bei Tourette überhaupt nicht
Der Influencer Jan Zimmermann startete seinen Kanal „Gewitter im Kopf“ bereits vor der Pandemie und der erste nachfolgende Fall wurde einen Monat nach Launch des Kanals im November 2019 berichtet.
Prof. Müller-Vahl untersuchte eine Kohorte von 32 Patienten mit dieser neuen funktionellen Störung. Alle kannten Jan Zimmermann und seinen Kanal. Im Unterschied zu einem Tourette-Syndrom mit frühem Beginn (im Mittel 6–7 Jahre) berichteten die Teilnehmer überwiegend von einem plötzlichen Beginn der Symptome im Jugend- und Adoleszentenalter (im Mittel 19 Jahre). Koprophänomene zeigten fast alle, während diese bei Tourette-Syndrom mit 28 % gar nicht so häufig vorliegen. Kaum ein Patient wies als Komorbidität ein Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS) auf, unter Tourette-Patienten leidet dagegen fast jeder Zweite daran, sagte Prof. Müller-Vahl. Das Vorgefühl eines herannahenden Tics haben Menschen mit der neuen funktionellen Störung länger als diejenigen mit der neuropsychiatrischen Erkrankung. Die Tics sind häufiger komplex, während die typischen einfachen Tic-Bewegungen von Tourette-Patienten fehlen. Vokale Tics überwiegen anders als bei Tourette körperliche und 90 % der Patienten haben mehr als zehn Tics, teils unzählige – Tourette-Kranke meist unter zehn.
Die Symptome der von Prof. Müller-Vahl untersuchten Kohorte überlappen stark mit denen von Jan Zimmermann – inklusive der Vokalisation „Pommes“, die es bei Tourette überhaupt nicht gibt, die aber für ein Merchandising im Kanal „Gewitter im Kopf“ genutzt wird. Das bei der funktionellen Störung benutzte rechte Vokabular oder Tierlaute sind für ein Tourette-Syndrom ebenfalls ungewöhnlich. Zudem fallen unpassende soziale Verhaltensweisen wie Mittelfinger zeigen und Essen werfen auf. Eine Koprolalie zeigt sich oft kontextbezogen, beispielsweise nur gegenüber den Eltern. Interessanterweise wird in den Videos viel gelacht – gerade auch von den Umstehenden, ein Verhalten, dass man bei Patienten mit Tourette und ihren Angehörigen nicht beobachtet, erklärte Prof. Müller-Vahl. Gerne geben die Betroffenen ihrer Störung einen Namen – wie Jan Zimmermann, der seine Erkrankung „Gisela“ nennt.
Getriggert wird die funktionelle Störung wahrscheinlich durch Ängste infolge von Klimawandel und der COVID-19-Pandemie, meinte Prof. Müller-Vahl. Sekundäre Krankheitsgewinne unterhalten die Störung mit: 61 % der Untersuchten in der deutschen Kohorte gaben an, aufgrund der Symptome besondere Privilegien genießen zu können, 58 % besondere Zuwendung zu bekommen.
Da die Influencer vorgeben, über Tourette aufzuklären, werden Patienten oft unter dieser Verdachtsdiagnose vorstellig. Es ist sehr wichtig, dann die korrekte Diagnose einer funktionellen Störung im Sinne einer durch Social Media übertragenen Massenhysterie zu stellen, betonte Prof. Müller-Vahl. In ihrer Kohorte besserten sich Symptome bereits nach Diagnosestellung und Psychoedukation bei 53 %.
Aufklärung hilft zudem Menschen, die eine funktionelle Störung dieser Art und gleichzeitig ein Tourette-Syndrom haben, wie es Prof. Müller-Vahl nach den Videos unter „Gewitter im Kopf“ auch von Jan Zimmermann vermutet. In ihrem Kollektiv betraf das fast die Hälfte der Patienten (15 von 32). Ihrer Erfahrung nach lässt sich mit den Patienten durchaus sortieren, welche Symptome zu Tourette gehören, welche nicht und was als besonders störend empfunden wird. Prof. Müller-Vahl empfiehlt dann eine darauf ausgerichtete Psychotherapie.
Influencer sollten bitte bedenken, was sie auslösen, ergänzte sie. Ein positives Signal gab es kürzlich aus Dänemark: Die dortige „Tourette“-Influencerin Stine Sang habe mitgeteilt, sie sei ab sofort symptomfrei.4 Möge das bei ihren Followern für Nachahmung sorgen.
1. Olvera C et al. Mov Disord Clin Pract. 2021; 8: 1200-1205; DOI: 10.1002/mdc3.1331
Quelle: DGPPN Kongress 2021 (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e.V. )