Enuresis
Enuresis und nicht-organische (funktionelle) Harninkontinenz sind häufige Störungen des Kindes- und Jugendalters.
Einnässen im Kindesalter (unwillkürlicher Urinverlust) wird allgemein als Harninkontinenz bezeichnet. Nicht-organische (funktionelle) Harninkontinenz bezeichnet einen unwillkürlichen Urinverlust nach Ausschluss struktureller Anomalien des Harntrakts, epileptischer Anfälle, neurologischer oder anderer nicht psychiatrischer Erkrankungen bei einem Kind ab dem Alter von fünf Jahren.
Nach den neueren Kriterien der ICCS (International Children’s Continence Society) wird zwischen folgenden Formen der Harninkontinez unterschieden:
Kontinuierliche (unwillkürliche) Harninkontinenz
- meist Folge einer organischen Erkrankung, z.B. bei angeborener Fehlbildung der ableitenden Harnwege oder neurogener Blasendysfunktion (organische Harninkontinenz).
Intermittierende Harninkontinenz
- nur selten organischen Ursprungs, zumeist liegt eine nicht-organische (funktionelle) Harninkontinenz vor
- bis zum vollendeten 5. Lebensjahr physiologisch
- kann sporadisch oder vorübergehend auftreten
- als Störung zu bezeichnen, wenn mindestens ein Einnässereignis pro Monat über eine Dauer von 3 Monaten aufgetreten ist (sonst Symptom)
- ab einer Einnässfrequenz von 4 oder mehr Tagen/Nächten pro Woche spricht man von einer häufigen (frequent) Enuresis oder Harninkontinenz
Inkontinenz im Schlaf (synonym: Enuresis oder Enuresis nocturna)
- Einnässen im Schlaf (auch Mittagsschlaf) jenseits des vollendeten 5. Lebensjahres
- primäre Enuresis, wenn das Kind noch nie länger als 6 Monate trocken war
- sekundäre Enuresis ist ein Rückfall nach mindestens sechsmonatigem Trockensein
- Unterscheidung zwischen monosymptomatisch (ohne Anzeichen einer Blasendysfunktion, zwei Drittel der Betroffenen) und nicht-monosymptomatisch (Blasendysfunktion oder andere Komorbiditäten wie z.B. Obstipation, Harnwegsinfektion oder ADHS)
- Prävalenz im Alter von sieben Jahren 7–13 %, Jungen zweimal häufiger betroffen, im Alter von zehn Jahren nässen noch etwa 5 % der Kinder nachts ein, im Alter von 16–17 Jahren sinkt die Prävalenz auf 0,5–1,1 %
Inkontinenz am Tag
- nach Ausschluss organischer Ursachen „funktionelle Blasendysfunktion“ oder „nicht-organische (funktionelle) Harninkontinenz“
- mehr Mädchen als Jungen betroffen
- tritt meist zusammen mit Enuresis auf
Formen der funktionellen Blasendysfunktion mit Inkontinenz tagsüber sind:
- überaktive Blase (overactive bladder, OAB/Dranginkontinenz)
- Miktionsaufschub (voiding postponement)
- dyskoordinierte Miktion (dysfunctional voiding, Detrusor-Sphinkter-Dyskoordination)
- unteraktive Blase (underactive bladder ) (vormals „lazy bladder“)
Zwei weitere Formen einer kindlichen Inkontinenz sind im Kindesalter sehr selten: die Belastungsinkontinenz (Stressinkontinenz) und die Lachinkontinenz (Giggle-Inkontinenz).
Sowohl die Enuresis als auch die Harninkontinenz am Tag kann für betroffene Kinder und ihre Eltern eine starke Belastung mit Einschränkung der Lebensqualität darstellen.
Symptom ist die unwillkürliche Blasenentleerung im Schlaf (Enuresis) oder am Tag.
Bei organischen Formen kann je nach Störungsmuster eine weitere Symptomatik hinzukommen.
Bei der körperlichen Untersuchung geht es vor allem darum, organische Ursachen der Harninkontinenz auszuschließen. Auf folgende Veränderungen sollte dabei geachtet werden:
- behutsame Inspektion von Anus und Genitale (Phimose, Vulvitis, Labiensynechie, Hinweise für Harnträufeln aus dem Introitus vaginae)
- Inspektion von LWS-Region und Os sacrum (z.B. Spina bifida occulta, Diastomyelie, Filum-terminale-Syndrom, sakrale Dysgenesie, Sakralagenesie)
- Inspektion der unteren Extremitäten (Beinlängendifferenzen, Fehlstellungen der Beine, Asymmetrie der Unterschenkelmuskulatur. Bewegungs- und Gangstörungen und fehlende oder seitendifferente Reflexe)
Die Basisdiagnostik umfasst:
Fragebögen und Protokolle
- Anamnesefragebogen über Enuresis/Harninkontinenz, bedeutsame Komorbiditäten , Screening für psychische Störungen und Symptome und bisherige Therapieversuche der Harninkontinenz
- Blasentagebuch: Trink- und Miktionsprotokoll („Pipiprotokoll“) über mindestens 48 Stunden mit Erfassung der Miktions- und Trinkmengen
- 14-Tage-Protokoll, in dem neben der Harninkontinenz tagsüber und nachts auch die Häufigkeit der Darmentleerung, Stuhlschmieren oder Einkoten dokumentiert werden soll (Strichliste)
Screening für psychische Symptome:
- z.B. validierten Breitband-Elternfragebogen wie Child Behavior Checklist (CBCL) oder Strengths and Difficulties Questionnaire (SDQ) bei allen Kindern mit Harninkontinenz/Enuresis
Ausführliche Anamnese
- aktuelle Symptomatik
- Besprechung der Fragebögen, Protokolle und der Auswertung von Blasentagebuch und 14-Tage-Protokoll
- Familien-, Schwangerschafts-, Geburts- und Entwicklungsanamnese
- Fragen zu Komorbiditäten und vorangegangene Therapien der Inkontinenz
Urinuntersuchung
- Urinuntersuchung aus einem Mittelstrahlurin anstreben (Streifentest zur Diagnostik meist ausreichend)
- bei Verdacht auf Harnwegsinfekt bakteriologische Untersuchung
Sonographie
- Ultraschalluntersuchung von Nieren und Harnwegen zum Ausschluss struktureller Veränderungen sowie zur Erfassung funktioneller Parameter wie Blasenwanddicke (oder der Detrusordicke)
- Restharnbestimmung
Bei Kindern, bei denen die Basisdiagnostik Hinweise auf eine organische Ursache liefert, sollte eine erweiterte kinderurologische Abklärung erfolgen.
Wichtige Differenzialdiagnosen der funktionellen Harninkontinenz sind:
- physiologische Harnkontinenz (bis fünf Jahre)
- organische Harninkontinenz (Fehlbildung der Harnwege, neurogene Blasendysfunktion, vaginaler Influx)
- nephrologische Ursachen (Harnweginfektionen, vesikoureteraler Reflux)
- gastroenterologische Ursachen (v.a. Obstipation)
- psychiatrische Ursachen (ADHS, Störungen des Sozialverhaltens, Depressionen, Angststörungen)
- Entwicklungsstörungen, -verzögerungen
- Schlafstörungen (Schlafapnoe-Syndrom, Parasomnien)
Bei der Therapie von Enureisis/funktioneller Harninkontinenz kommt es auf die richtige Reihenfolge an:
1. Eine Stuhlinkontinenz und/oder Obstipation soll immer zuerst behandelt werden (führt in vielen Fällen auch zu einer Besserung der Harninkontinenz).
2. Manifeste, klinische psychische Störungen müssen zusätzlich zur Inkontinenztherapie behandelt werden. In vielen Fällen kann dieses gleichzeitig erfolgen (wie z.B. bei der ADHS) – bei schweren psychischen Störungen (wie z.B. bei einer schweren Depression) ist es sinnvoll, die psychische Störung zuerst zu behandeln und dann mit der Inkontinenztherapie zu beginnen. Subklinische psychische Symptome und Belastungen, die nicht die Kriterien einer Störung erfüllen, bilden sich oft nach Erreichen der Kontinenz zurück. In diesen Fällen reicht es, zuerst die Inkontinenz/Enuresis zu behandeln.
3. Bei der Assoziation von symptomatischen Harnwegsinfektionen und Blasendysfunktion (Mädchen sind häufiger betroffen) ist eine am Resistogramm orientierte antibakterielle Prophylaxe in Erwägung zu ziehen (zumindest bis zur Besserung der Blasenfunktion). Besonders geeignet ist die Gabe von Nitrofurantoin, das nebenwirkungsarm und aufgrund der Resistenzentwicklung zahlreicher Antibiotika gegen E.coli empfehlenswert ist – es sollte aber nicht länger als sechs Monate gegeben werden.
4. Nach erfolgreicher Behandlung einer bedeutsamen Komorbidität wird als nächstes die Harninkontinenz am Tag behandelt.
5. Die Enuresis nocturna wird zuletzt behandelt.
Standard-Urotherapie
Urotherapie umfasst alle konservativen, nicht chirurgischen und nicht pharmakologischen Behandlungsverfahren bei Funktionsstörungen des unteren Harntrakts. Dazu können gehören:
1. Kind- und elterngerechte Information über die Entwicklung und Funktion der Harnblase (Reifungsprozesse) und der Blasenentleerung, Charakterisierung und Beschreibung der vorliegenden Blasenfunktionsstörung und Entwicklung von Strategien, die Blasenfunktion zu normalisieren.
2. Beratung durch einen Arzt oder eine(n) Urotherapeut/in mit folgenden Themen:
- Was ist normal?
- Was ist im individuellen Fall gestört?
- Was ist nicht effektiv?
- Was kann man tun?
3. Blasenentleerung bei Harndrang möglichst rasch, in entspannter Haltung (bequemes Sitzen auf der Toilette) und in Ruhe. Der Toilettensitz muss kindgerecht sein (vollständiges Aufstellen der Füße sollte möglich sein, z.B. mit Hilfe einer Fußbank)
4. Besprechen von Anzahl und Zeitpunkt der regelmäßigen Miktionen individuell mit Kind und Eltern (5–7 pro Tag bei altersgemäßer Trinkmenge und Blasenkapazität, regelmäßiges auf die Toilette schicken)
5. Bei verminderter Wahrnehmung des Harndrangs kindgerechte Übungen zur Wahnehmung von Blasenfüllung und Harndrang
6. tagsüber regelmäßige und ausreichende Flüssigkeitsaufnahme (1000 ml bis 1500 ml am Tag je nach Alter)
- bei Enuresis zum Abend hin evtl. weniger trinken (sieben Becher mit je 150–200 ml je nach Alter, die letzte Portion etwa zwei Stunden vor dem Schlafengehen)
7. keine radikale abendliche Flüssigkeitsrestriktion, keine nicht wirksamen Medikamente, keine Vorwürfe und Bestrafungen
Spezielle Urotherapie
Die Anwendung spezieller urotherapeutischer Verfahren orientiert sich an den jeweiligen Störungsbildern und Inkontinenzformen. Dazu können verschiedene Formen des Beckenbodentrainings, Biofeedbacktraining, Elektrostimulation (transkutane elektrische Nervenstimulation, TENS), Anleitung zum sauberen Einmalkatheterismus, aber auch die Instruktion zur apparativen Verhaltenstherapie bei Enuresis gehören.
Führen diese Maßnahmen bei Enuresis nicht zum Erfolg, bestehen zwei weitere Therapiemöglichkeiten zur Verfügung:
Apparative Verhaltenstherapie (AVT)
Ein Weckapparat (tragbares Gerät oder Bettgerät, mit Klingelton und/oder Vibration) ist bei motivierten Kindern und Familien Mittel der ersten Wahl.
- besonders erfolgversprechend bei Kindern mit altersentsprechender oder mäßig verminderter Blasenkapazität und normaler nächtlicher Urinausscheidung
- nicht als primäres Verfahren bei nicht-monosympotmatischen Formen und mehreren Einnässepisoden pro Nacht
- Anwendung mindestens 2–3 Monate ohne Unterbrechung jede Nacht
- die Therapie soll so lange durchgeführt werden, bis die Kinder 14 Nächte hintereinander trocken waren (jedoch in der Regel nicht länger als insgesamt 16 Wochen)
- bei unzureichendem Therapieerfolg evtl. Kombination mit anderen verhaltens-therapeutischen Konzepten
Desmopressin
Die Desmopressin-Therapie hat ihre Berechtigung bei Kindern und Familien
- bei denen eine AVT trotz richtiger Anwendung erfolglos war
- die eine AVT ablehnen oder bei denen die familiäre Situation diese nicht zulässt
- die sich nach Information über die beiden Behandlungsmöglichkeiten für die Behandlung mit Desmopressin entscheiden
- und /oder bei denen ein sehr hoher Leidensdruck besteht, der eine rasche Besserung der Symptomatik erfordert
Folgendes ist bei der Durchführung zu beachten:
- Einnahme der Desmopressin-Präparate etwa 30–60 Minuten vor dem Zubettgehen
- Beginn mit der einmaligen abendlichen Gabe
- Dosiserhöhung bei unzureichendem Therapieeffekt nach zwei Wochen
- abendliche Trinkmenge von 250 ml nicht überschreiten und auch nachts nicht trinken (bei normaler Trinkmenge am Tag)
- 30 % der Kinder sind volle, 40 % partielle Responder und 30% Non-Responder
- falls sich nach vier Wochen kein Erfolg einstellt, sollte das Medikament absetzt werden
- falls erfolgreich, kann Desmopressin maximal drei Monate täglich genommen werden, dann sollte die Behandlung beendet oder schrittweise reduziert werden (bei abruptem Absetzen häufig Rückfall)
- Kontraindikationen sind Polydipsie/Polyurie unklarer Genese, habituelle Polydipsie und Non-Adhärenz
Bei ausbleibendem Therapierfolg aller genannten Maßnahmen werden Kontinenzschulungen (z.T. ambulant, ansonsten tagesstationär oder stationär) empfohlen.
Eine Prävention ist nicht bekannt.
S2k-Leitlinie: Enuresis und nicht -organische (funktionelle) Harninkontinenz bei Kindern und Jugendlichen
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