S2e-Leitlinie: „Diabetes und Straßenverkehr“ hilft Ärzten, Patienten und bei Rechtsunsicherheiten
Es ist die erste Leitlinie europaweit, die auf wissenschaftlich fundierter Grundlage die Fahrtauglichkeit bei Diabetes bewertet. Sie wurde von der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) initiiert und gemeinsam mit anderen Fachgesellschaften und Patientenorganisationen erarbeitet.
Nach Aussage von Rechtsanwalt Oliver Ebert, Koordinator und Mitautor der Leitlinie sowie Vorsitzender des Ausschusses Soziales der DDG, ist hierzulande jeder zehnte Führerscheininhaber von Diabetes betroffen. Geschätzt drei Millionen dieser Menschen werden mit Medikamenten oder Insulin behandelt. Erkenntnisse für ein deutlich erhöhtes Risiko gebe es allerdings nicht, im Gegenteil: „Tatsächlich könnte aufgrund einer erhöhten Sorgfalt und Vorsicht dieser Patienten möglicherweise sogar ein geringeres Unfallrisiko bestehen.“ Der Jurist ist deshalb zufrieden, dass mit der Leitlinie die bisherige „erhebliche haftungsrechtliche Grauzone“ der Vergangenheit angehören wird.
Verlust des Führerscheins lässt sich nun leichter abwenden
Es gibt zwar bereits „Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung bei Diabetes“ der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt), die körperliche und/oder geistige Einschränkungen beim Führen von Kraftfahrzeugen thematisieren. Die neue, 188 Seiten umfassende S2e-Leitlinie geht jedoch weit über diese hinaus. Sie betrachtet Diabetes nicht nur evidenzbasiert, sie beinhaltet auch Handlungsempfehlungen für fahrzeugführende Patienten mit Diabetes sowie für Ärzte, Verkehrsmediziner, Amtsärzte, Diabetesberater, Psychologen, Behörden und Versicherungsfachleute.
Professor Dr. Reinhard Holl, Epidemiologe der Universität Ulm und ebenfalls Koordinator und Mitautor der Leitlinie, verwies darauf, dass oft die Meinung vertreten wird, insulinpflichtige Patienten könnten nicht mehr als Busfahrer oder Lkw-Fahrer arbeiten oder ein hoher Langzeitblutzuckerwert stelle einen Grund zur Verweigerung des Führerscheins dar. Aber: „Ein hoher HbA1c-Wert an sich ist kein Grund für ein Fahrverbot, eine Insulintherapie auch nicht.“
Nun sei es deutlich einfacher, gegen ein fehlerhaftes Gutachten vorzugehen bzw. einen drohenden Verlust des Führerscheins abzuwenden, ist Jurist Ebert überzeugt. Den Fortschritt machte er an einem Beispiel deutlich.
Ein medikamentös behandelter Busfahrer mit Typ-2-Diabetes und einem dauerhaft überhöhten HbA1c-Wert verursacht einen Verkehrsunfall. Die Fahrerlaubnisbehörde erfährt von der Erkrankung und fordert ein verkehrsmedizinisches Gutachten an. Fazit: Es liegt keine Kraftfahreignung mehr vor.
Bisher hatte der Busfahrer keine Möglichkeit, eine solche Expertise infrage zu stellen. Jetzt muss der Gutachter die S2e-Leitlinie zugrunde legen und Abweichungen begründen. Professor Dr. Baptist Gallwitz, Mediensprecher der Fachgesellschaft, ergänzte hierzu: „Das schützt vor Diskriminierung und Ausgrenzung, ermöglicht gesellschaftliche Teilhabe und sichert berufliche Existenzen.“
Konkrete Empfehlungen bezüglich Hypoglykämien
Thematisiert werden in der Leitline unter anderem die Erkrankung Diabetes mellitus inklusive Folgeerkrankungen (Augenerkrankungen, Diabetische Neuropathie, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Schlaf-Apnoe-Syndrom, Depression, Demenz sowie altersspezifische Besonderheiten), Unfallhäufigkeit, Rechtsgrundlagen zum Thema sowie Anforderungen an Gutachten.
Die Leitlinie gibt zudem konkrete Empfehlungen, etwa zur Optimierung der Diabetestherapie, zum Einsatz von Insulinpumpen und dem kontinuierlichen Glukosemonitoring sowie zum Hypoglykämiewahrnehmungstraining. Gezeigt wird auch, welche Diabetes-Schulungs- und -Behandlungsprogramme Hypoglykämien beim Autofahren thematisieren.