Technologie von morgen: Genauer messen, präziser dosieren, besser vernetzen

diatec journal Autor: Dr. Andreas Thomas

Neue Daten zu offenen künstlichen Bauchspeicheldrüsen-Systemen. Neue Daten zu offenen künstlichen Bauchspeicheldrüsen-Systemen. © AGPhotography – stock.adobe.com; iStock/Gilnature

In der Diabetestechnologie gibt es in allen Bereichen Fortschritte, das wurde auf dem diesjährigen ADA klar. Doch es wird auch deutlich: Ohne einen geschulten Anwender geht es nicht.

Der Kongress der American Diabetes Association (ADA) ist nach wie vor eine der umfassendsten Quellen, wenn es um Neuigkeiten auf dem Gebiet der Diabetestechnologie und deren Anwendung geht. Davon zeugt die beachtliche Zahl an Beiträgen – Vorträge und Poster – zu diesen Themen: 135 zur Glukosemessung, 121 zur Beurteilung von Parametern, die sich im Wesentlichen durch das kontinuierliche Glukosemonitoring (CGM) ergeben, 94 zu Insulinpumpen und glukosegesteuerten Systemen zur automatisierten Inuslingabe (Automated Insulin Delivery; AID) und 75 zu Therapieansätzen auf Grundlage der Digitalisierung wie Telemedizin.

Das sind ca. 17 % der insgesamt vorgestellten Beiträge. Wesentliche Erkenntnisse, Neuigkeiten bzw. Entwicklungen lassen sich wie folgt zusammenfassen:

  • Insulinpumpen entwickeln sich generell in Richtung der Anbindung von CGM und damit auch zur Fähigkeit, als AID zu fungieren.
  • Verbindung von Geräten mit Apps zwecks verbessertem Diabetesmanagement und Zugang zu Systemen zur Therapieunterstüzung (Decision Support Systems) für Patienten und Ärzte/Diabetesberater/Innen (Therapieanpassung).
  • Entwicklung integrierter Technologien, sowohl bei CGM-Systemen (iCGM) als auch bei Insulinpumpen (iPumps), Insulinpens oder Software. Ziel ist, verschiedene Komponenten von unterschiedlichen Firmen zusammenschalten zu können – also z.B. eine Insulinpumpe von Medtronic mit einem Glukosesensor von Dexcom.
  • „Smarte“ Insulinpens, verbunden mit Glukosemonitor, Apps, Decision Support Systems.
  • „Nadelfreie“ Insulininjektoren, speziell für Patienten mit Spritzenangst.

Neuartige Glukosesensoren

Die Verfügbarkeit von kalibrationsfreien Glukosesensoren gestattet es im günstigsten Fall, unter stabilen glykämischen Verhältnissen über einen Zeitraum von 10 bis 14 Tagen mit nur einer Selbstverletzung beim Insertieren des Glukosesensors auszukommen.

Ziel: Messungen ganz ohne Selbstverletzung

Es wird jedoch auch weiterhin an der nicht-invasiven Glukosemessung gearbeitet. Bei physikalischen Messmethoden kann auf die Entnahme von Probenmaterial (Blut oder interstitielle Flüssigkeit) bzw. auf eine Implantation des Glukosesensors verzichtet werden. Die Glukosekonzentration wird aus der Wechselwirkung von eingestrahlter Energie (z.B. Licht im infraroten Wellenlängenbereich) und den Glukosemolekülen ermittelt. Hier gab es unzählige Misserfolge – hauptsächlich begründet in dem schlechten Verhältnis zwischen dem geringfügigen Nutzsignal der Glukose und den Störsignalen anderer Moleküle wie Wasser oder Lipide. Doch es wird weiterhin nach praktikablen Lösungen gesucht.

So testete eine Arbeitsgruppe am Institut für Diabetes-Technologie Forschungs- und Entwicklungsgesellschaft mbH an der Universität Ulm das auf Basis der Raman-Spektroskopie messende System GlucoBeam® (RSP Systems). Das Projekt wird über das EU-Fördermittelprogramm EU Horizon 2020 gefördert.

Bei zehn Probanden wurden pro Versuch über jeweils 27 Tage die Werte mit dem Flash-Glukose-Messsystem (FGM) FreeStyle Libre (Abbott) und dem Contour® Next One (Ascencia) zur Blutzuckerselbstmessung (SMBG) verglichen.1 Bei ambulanter Verwendung lag die mittlere relative Abweichung (MARD) in Bezug auf das FGM im Mittel bei 16,1 % und in Bezug auf SMBG bei 20,2 %. Das sind durchaus ausbaufähige Daten.

Weiterhin bemerkenswert waren:

  • Glukosesensoren auf Basis der Veränderung der elektrischen Leitfähigkeit (bzw. des elektrischen Widerstandes) und der Absorption von phosphatgepufferter Boronsäure, wenn an diese Glukose anbindet, denn Glukose hat eine hohe Affinität zu Boronsäure.2

  • Die Entwicklung eines Fluorescence-Resonance-Energy Transfer-Systems (FRET), bei welchem die Fluoreszenz von glukoseaffiner Boronsäure bestimmt wird.3 Der Sensor besteht aus Mikronadeln (Höhe: 160 µm, Breite: 100 µm, Durchmesser: 50 µm), die völlig schmerzfrei in die obere Hautschicht eindringen, einer Lichtquelle und dem optischen Detektor. Die Veränderung des Fotostromes aufgrund der Glukoseanbindung an die Boronsäure wird in diesem integrierten FRET gemessen und damit die Glukosekonzentration bestimmt.

  • Entwicklung des Systems NIRLUS® (Near Infra Red Light Ultra Sound; NIRLUS Engineering AG), bei welchem die Anregung der Glukosemoleküle mit Nahinfrarot-Licht erfolgt und die Energieabgabe mittels Ultraschall gemessen wird.4 Im Vergleich zu einem Laborgerät lagen im Error-Grid-Plot 93,6 % der Werte im guten Bereich A und 6,4 % im akzeptablen Bereich B.

Zukunftsweisend sind Entwicklungen, die ihre Basis in der modernen Mikro- bzw. Nanoelektronik haben werden. Die Firma Integrated Medical Sensors Inc. positioniert Glukosesensoren mit Abmessungen von 0,1 mm × 0,6 mm × 3 mm auf Silizium-Wafern und stellt diese ähnlich her wie integrierte Schaltkreise.5 Ein Sensor hat etwa 1/40 der Größe eines üblichen Glukosesensors, womit sich zum Beispiel auf einem 12-Zoll-Wafer (ca. 30 cm) bis zu 15 000 Sensoren positionieren lassen. Der auf der enzymatischen Glukoseoxidase-Reaktion basierende Sensor soll unter die Haut implantiert werden. Die Kommunikation erfolgt mithilfe eines Transmitters. Solch ein Zugang zur hocheffektiven Halbleitertechnologie könnte große Produktionsstückzahlen zu einem geringen Preis gewährleisten.

CGM-Systeme führen zu neuem Blick auf die Werte

Aktuell wird das Thema Glukosemessung durch CGM dominiert. Auf dem ADA fielen folgende Tendenzen auf:

  • Die Anwendung von intermittierend scannendem CGM (iscCGM) verdrängt in der Alltagsanwendung die klassische punktuelle Blutzuckermessung. Diese bleibt aber verfügbar, um in kritischen Situationen als Vergleichsmethode zu dienen. Bei einigen CGM-Systemen ist sie auch notwendig zur Kalibrierung, insbesondere beim auf dem Markt verfügbaren Hybrid-AID von Medtronic.

  • CGM liefert Parameter wie die Time in Range (TiR), den Glucose Management Indikator (GMI) und die Glukosevariabilität, welche in internationalen Konsensus-Statements als Qualitätsindikatoren für die glykämische Regulation festgelegt wurden.

  • rtCGM (Echtzeit-CGM) stellt die Grundlage dar für eine Verwertung konsekutiver Glukosedaten für Patienten-Entscheidungssysteme bzw. Expertensysteme. Dabei werden die Daten von einem Smartphone über eine Cloud an einen Großcomputer übermittelt, welcher diese analysiert und Handlungsvorschläge an den Patienten zurückspielt. Ein Beispiel dafür ist ­Sugar.IQ™ (Medtronic).6 Damit erfolgt in der Zukunft eine Wandlung der Bedeutung von CGM von der Therapieunterstützung zur externen, aber weiterhin in den Händen der Patienten liegenden Therapiesteuerung.

Zu AID-Systemen gibt es inzwischen Alltagsdaten

Vorträge zu AID-Systemen als das Ziel einer langen Entwicklung des Zusammenwachsens von Insulinabgabe und Glukosemessung sind oft gut besucht – stellen sie doch ein Schwerpunktthema des ADA-Kongresses dar. Durch die Verfügbarkeit eines Hybrid-AID in den USA seit 2017 mit aktuell etwa 200 000 Anwendern kommen auch relevante Fragestellungen zum Umgang mit einem solchen System im Alltag hinzu. Real-World-Daten von 77 668 Patienten ergaben, dass durchschnittlich eine TiR von 72 % erreicht wird.7 Daten einer Auswahl von Patienten, die das System bereits länger als ein Jahr tragen, ergeben ebenfalls so hohe Werte für die TiR.

Der berechnete HbA1c-Wert liegt im Modus der adaptiven, glukosegesteuerten basalen Insulingabe (Auto-Modus) bei 7,15 %, der Glukose-Management-Indikator (GMI) bei 7,05 %. Damit werden von den Patienten in großer Breite Ergebnisse erreicht, die laut eines internationalen Konsensus-Statements als normgerechte Einstellung gefordert werden.

Mittlerweile existieren mit der MiniMed™ 670G (Medtronic) auch Daten für Kinder von zwei bis sechs Jahren. Die Studie für diese Altersklasse ist den Zulassungsstudien der anderen Altersklassen ähnlich: eine Run-in-Phase über zwei Wochen im manuellen Modus und anschließend drei Monate Anwendung des Auto-Modus unter Alltagsbedingungen.8 Auch wenn die TiR im Auto-Modus mit 63,4 % nicht die Werte der Erwachsenen (73,8 %) erreicht, stellt das für diese Altersgruppe einen beachtlichen Fortschritt dar.

In naher Zukunft werden weitere Hybrid-AID beziehungsweise auch vollständige AID-Systeme erwartet. Entsprechend wurden auf dem ADA Untersuchungen zu zwei Hybrid-AID-Systemen gezeigt: einem Hybrid-AID, das aus der Insulinpumpe t:slim X2™ mit Control-IQ™-Technologie sowie dem CGM-System Dexcom G6® (Dexcom) besteht, sowie zu dem ­Omnipod® ­Horizon™ Hybrid-AID-System (Insulet). Die relativ kleinen Fallzahlen in den vorgestellten Arbeiten lassen darauf schließen, dass Zulassung und Markteinführung nicht unmittelbar bevorstehen.

Im Gegensatz dazu sind die vorgestellten Daten zu den offenen künstlichen Bauchspeicheldrüsen-Systemen (open Artificial Pancreas System; openAPS) reale Anwenderdaten. Beispielsweise wurde anhand von 80 Datensätzen, welche insgesamt CGM-Kurven über 53 Jahre repräsentieren, gezeigt, dass sich bei der durch einen Glukosesensor gesteuerten Insulinabgabe eine TiR (70–180 mg/dl) von 77,5 % ergab.9

Unter der vorherigen sensorunterstützten Pumpentherapie lag diese bei 68,2 %, was andeutet, dass es sich um ein sehr gut geschultes und therapiertes Klientel handelt. Der Anteil der Zeit im Glukosebereich unter 70 mg/dl betrug 4,3 %, im Glukosebereich über 180 mg/dl 18,2 %. Der errechnete HbA1c-Wert lag bei 6,4 %.

Technik allein reicht nicht

Eine wichtige Frage betrifft die Schulung der Patienten. Diese darf nicht nur die Technik selbst, sondern muss in gleichem Maße die Implementierung der Therapie betreffen. Das entscheidet letztendlich über den Erfolg von CGM. Speziell bei Kindern im Vorschulalter ist das schwierig und betrifft eher die Eltern. Das Management des Diabetes ist für diese eine Herausforderung, was zum Beispiel die SENCE-Studie zeigte.12 Diese randomisierte, kontrollierte Studie über sechs Monate in 14 Zentren der USA wurde mit 143 Kindern im Alter von 2 bis 7 Jahren durchgeführt. Zu Gruppe A zählten diejenigen mit Anwendung von rtCGM mit zusätzlicher Schulung der Familien, Gruppe B nur die Anwendung von rtCGM, Gruppe C war die Kontrollgruppe mit ausschließlich Blutzuckerselbstmessung und viermaliger Anwendung von verblindetem CGM. Die TiR änderte sich nur unwesentlich gegenüber den Ausgangsdaten und war auch zwischen den Gruppen nicht signifikant verschieden (A: 42 %; B: 40 %; C: 40 %). Allerdings war der Anteil der Zeit im tiefen Glukosebereich in den CGM-Gruppen geringer (< 54 mg/dl: A: 0,5 %; B: 0,4 %; C: 2,2 %). Schwere Hypoglyk­ämien gab es in Gruppe A keine, in Gruppe B eine und in Gruppe C fünf. Zur Einordnung der Ergebnisse lässt sich feststellen, dass normo-glykämische Resultate in dieser Altersgruppe schwierig zu erzielen sind. Eine TiR unter 50 % ist nicht befriedigend. Allerdings wird die Gefahr von Hypoglykämien deutlich reduziert, was absolut positiv zu bewerten ist. Mit Sicherheit ist bei dieser Patientengruppe die Kombination von CGM mit einer Insulinpumpe zur Sensorunterstützten Pumpentherapie oder zum AID-System indiziert.

Weitere Präsentationen betrafen den Einsatz von bi-hormonellen AID-Systemen, von denen das Gen3 iLet™ (Beta Bionics) am weitesten fortgeschritten ist.10 In diese Pumpe lassen sich simultan Ampullen für Insulin und Glukagon einlegen. Die Glukosedaten lieferten entweder das Dexcom G5 (Dexcom) oder das implantierte CGM-System Eversense® (Senseonics). Der Steueralgorithmus arbeitet auf einem iPhone. In einer Machbarkeitsstudie mit 34 erwachsenen Patienten (Vorbehandlung: 12 mit intensivierter konventioneller Insulintherapie, 22 mit kontinuierlicher subkutaner Insulininfusion) zeigte sich unter der automatisierten Anwendung des bi-hormonellen Systems eine Erhöhung der TiR von 61,5 % (Baseline) auf 70,1 %.

Der nächste Schritt: Pumpe für Insulin und Glukagon

Zu diskutieren gilt, ob ein bi-hormonelles AID einem Single-Hormon-System mit Insulin überlegen ist. Mit dem „Oregon Artificial Pancreas System“ wurde dazu eine Cross-Over-Studie mit 23 Patienten über 76 Stunden durchgeführt.11 Während der Untersuchung führten die Patienten moderate sportliche Aktivitäten durch (45 min bei VO₂max von 60 %). Verwendet wurden Insulin aspart (NovoLog® bzw. NovoRapid®; Novo Nordisk) und die stabile flüssige Glukagonformulierung XeriSol™ (Xeris Pharmaceuticals). Die TiR betrug bei der bi-hormonellen Anwendung 74,5 %, bei alleiniger Insulingabe 73,9 %. Geringer war bei der bi-hormellen Anwendung der Anteil der Zeit unter 70 mg/dl mit 0,8 vs. 2,4 % bei ausschließlich Insulin. Bei sportlicher Aktivität (plus vier Stunden danach) wurde der Unterschied mit 2,9 vs. 8,2 % noch deutlicher. Grundsätzlich ist damit aber noch nicht die Frage entschieden, ob der deutlich höhere Aufwand und die höheren Kosten ein bi-hormonelles System rechtfertigen. Nach wie vor ist der ADA-Kongress die umfangreichste Leistungsschau für Diabetestechnologie, wenn man die spezialisierten Kongresse – wie den Kongress Advanced Technologies & Treatments for Diabetes (ATTD) in Europa oder das Diabetes-Technologie-Meeting in den USA – ausklammert. Allein die hohe Zahl an Abstracts bietet kein anderes Forum. Mit Blick auf die Vorteile erscheint die Implementierung der Diabetestechnologie in der Breite notwendig. Dass Diabeteszentren diese erfolgreich einsetzen und deren Patienten damit im Alltag gute Ergebnisse erzielen, steht außer Zweifel. Eine andere Frage ist, ob das bei nicht-spezialisierten Ärzten auch der Fall ist. Solange die Systeme nicht zuverlässig vollautomatisch die Glukosespiegel steuern, bleibt die Schulung der Patienten ein Schwerpunkt, auch bei Hybrid-AID-Systemen. Doch auch später wird diese unverzichtbar sein: Denn kein Pilot wird ein Flugzeug nur mit Autopilot fliegen, ohne die manuelle Steuerung zu beherrschen.

Quellen:
1 Freckmann G et al. ADA-Kongress 2019; Abstract 94-LB; DOI: 10.2337/db19-94-LB
2 Wang B et al. ADA-Kongress 2019; Abstract 934-P; DOI: 10.2337/db19-934-P
3 Pennathur S. ADA-Kongress 2019; Abstract 940-P; DOI: 10.2337/db19-940-P
4 Meyhoefer S et al. ADA-Kongress 2019; Abstract 977-P; DOI: 10.2337/db19-977-P
5 Mujeeb-U-Rahman M et al. ADA-Kongress 2019; Abstract 938-P; DOI: 10.2337/db19-938-P
6 Arunachalam S et al. ADA-Kongress 2019; Abstract 939-P; DOI: 10.2337/db19-939-P
7 Gopalakrishnan S et al. ADA-Kongress 2019; Abstract 1052-P; DOI: 10.2337/db19-1052-P
8 Bailey TS et al. ADA-Kongress 2019; Abstract 1059-P; DOI: 10.2337/db19-1059-P
9 Melmer A et al. ADA-Kongress 2019; Abstract 76-OR; DOI: 10.2337/db19-76-OR
10 Jafri RZ et al. ADA-Kongress 2019; Abstract 77-OR; DOI: 10.2337/db19-77-OR
11 Wilson LM et al. ADA-Kongress 2019; Abstract 1038-P; DOI: 10.2337/db19-1038-P
12 DiMeglio L. ADA-Kongress 2019

Kongressbericht: 79th Scientific Sessions der ADA