Jeder Fünfte will sein Kind nicht impfen lassen
War das Ergebnis der Erhebung aus den TK-Versichertendaten für Sie und Ihre Kollegen überraschend?
Prof. Huppertz: Nein. Es hat uns eher bestätigt. Bisher fehlten uns aber gute Zahlen. Die Durchimpfungsrate berechnet sich normalerweise aus den Erhebungen der Einschulungsuntersuchung. Diese Zahlen sehen auf den ersten Blick nicht so schlecht aus. Allerdings muss man wissen, dass Kinder, die an diesem Tag keinen Impfausweis vorlegen, einfach nicht gezählt werden. Wir gehen davon aus, dass diese Kinder – wenn überhaupt – zumindest schlechter geimpft sind als diejenigen, die ihn dabeihaben. Die Auswertung beweist, dass Kinder ohne Ausweis dringend mit in die Statistik gehören.
Wie kommt es, dass den Pädiatern so viele Impfkandidaten entgehen?
Prof. Huppertz: Wenn die Eltern fragen, „Ist das Kind nicht zu klein, sollte man es nicht lieber später piksen?“, geben manche Ärzte lieber klein bei, anstatt sich durchzusetzen und zu impfen, wenn es am günstigsten wäre. So verzögern sich Impfungen immer weiter. Das kann sogar so weit gehen, dass sie am Ende ganz vergessen werden. Viele Eltern wissen nicht, dass sie die Kleinen in der Zwischenzeit einer Gefahr aussetzen. In der Bevölkerung fehlt das Bewusstsein, wie wichtig ein frühzeitiger Schutz ist. Einen anderen Grund für die Verzögerung stellen die sogenannten „falschen Kontraindikationen“ dar.
Was hat es damit auf sich?
Prof. Huppertz: Nehmen wir an, ein Kind soll mit elf Monaten zeitgerecht die erste MMRV-Impfung erhalten, aber seine Nase läuft. Der milde Infekt ohne Fieber ist kein Hindernis für die Impfung. Laien und gelegentlich auch Ärzte nehmen das aber fälschlicherweise an. Ich habe Kinder erlebt, die am Ende drei und deshalb ungeimpft waren, obwohl Eltern und Arzt durchaus impfen wollten.
Hält die „Impfzögerlichkeit“ viele Eltern zurück?
Prof. Huppertz: Die WHO stufte „Vaccine Hesitancy“ als eines der zehn großen Probleme 2019 ein. Ein Kind wird nicht geimpft, obwohl das Serum zur Verfügung steht, weil die Eltern es so wollen. Überschlägt man die Zahlen, trifft das auf etwa 20 % der Eltern zu. Aber nur ein relativ geringer Anteil, etwa 2 %, gehören zu den richtigen Impfgegnern, die ihre Meinung aus religiösen oder ideologischen Gründen nicht ändern wollen. Als wirklich relevant betrachten wir die übrigen 18 %, die man durch zusätzliche Aufklärung und Informationen überzeugen kann. Geraten diese allerdings an einen impfskeptischen Arzt, der den Boden der wissenschaftlichen Medizin verlassen hat und gegen Impfungen auftritt, verwandeln sich die ursprünglichen Skeptiker auch in Impfverweigerer.
Ihre Meinung zu diesen Ärzten scheint eindeutig.
Prof. Huppertz: Die weit überwiegende Mehrzahl meiner Kollegen sind der wissenschaftlichen Medizin treu geblieben und impfen. Aber es gibt vereinzelt schwarze Schafe und denen muss man das Handwerk legen. Bei manchen könnte man sagen, es ist eine ökonomische Masche, auf der ihre Praxis aufbaut: Impfskeptische Eltern suchen, heranholen und sich so einen treuen Patientenstamm sichern. Diesen Kollegen müsste man so viel Druck machen, dass sie damit aufhören und zur wissenschaftlichen Medizin und dem Wohl der Kinder zurückkehren.
Lückenhafte Leistungen
Wer kann so einen Druck ausüben?
Prof. Huppertz: Es heißt, dass ein Arzt von den Leitlinien nur im Ausnahmefall abweichen soll. Die STIKO-Empfehlungen sind Leitlinien. Impft der Arzt ein Kind ohne triftigen Grund nicht, verfehlt er die Leitlinie. Anhand der KV-Abrechnungen lässt sich herausfinden, wer wie viele Impfungen verabreicht hat. Gleichzeitig steht dort, wie viele potenzielle Kandidaten dafür in der Praxis waren. Ein Vergleich zeigt dann: Dieser Arzt hat es auffallend oft versäumt, die Vakzine zum fälligen Zeitpunkt zu geben. Er kann daraufhin von der Ärztekammer befragt werden. Vielleicht weiß man sogar, dass der Kollege zu den Skeptikern gehört und den Eltern die Impfungen ausredet. Auch dagegen kann die Kammer angehen und im Extremfall den Entzug der Approbation androhen. Bisher herrscht hier aber noch große Zurückhaltung, sodass die obersten Landesgesundheitsbehörden eigentlich die Ärztekammern dazu auffordern müssten, darauf zu achten, dass die medizinische Versorgung leitliniengerecht erfolgt.
Wäre eine Impfpflicht von Vorteil?
Prof. Huppertz: Ich halte es für richtig, den Druck zu erhöhen. Ob eine Pflicht letztendlich funktioniert, weiß man nicht, denn die wissenschaftlichen Untersuchungen dazu fallen uneinheitlich aus. Nur sind wir an einem Punkt, an dem wir es zumindest versuchen müssen. Generell sehen wir Kinderärzte es positiv, dass jetzt intensiv über das Thema diskutiert wird, und dass sich auch der Gesundheitsminister so für Impfungen einsetzt, ist sicherlich nicht verkehrt.
Gibt es bei der Impfpflicht auch Schattenseiten?
Prof. Huppertz: In der Diskussion darüber vergisst man oft, dass die Pflicht für eine Immunisierung – in diesem Fall Masern –, andere Impfungen aus Patientensicht abwerten könnte. Und das wäre fatal. Denn alle diesbezüglichen STIKO-Empfehlungen haben ihre Berechtigung. Röteln, Kinderlähmung und Keuchhusten sind beispielsweise nicht weniger relevant. Entsprechend empfiehlt unsere Kommission, jeden, der Kindergarten, Kindertagesstätte und Co. besucht, zeitgerecht nach diesen Empfehlungen zu impfen. Dann kann die Mutter mit dem sechs Monate alten Säugling das Geschwisterkind abholen, ohne den Säugling einer Gefahr auszusetzen. Wir von der Deutschen Akademie für Kinder und Jugendmedizin weisen außerdem immer wieder darauf hin, dass es nicht damit getan ist, nur die Kinder zu schützen. Will man die Masern ausrotten, müssen wir auch die Jugendlichen sowie die nach 1970 Geborenen impfen. Bisher wird das oft vernachlässigt.
Quelle: Medical-Tribune Bericht