Sturzanamnese: Bei Älteren nicht nur auf physiologische Aspekte achten
Häufig konzentrieren sich Ärzte bei ihren geriatrischen Patienten viel zu sehr auf die objektiven Faktoren. Ein Fehler, wie Privatdozentin Dr. Ellen Freiberger und ihre Kollegen von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg schreiben. Denn für die subjektive Lebensqualität sei es meist viel wichtiger, mobil zu bleiben und damit den Alltag weitgehend selbstständig bewältigen zu können.
Doch gerade in Sachen Mobilität hapere es bei Senioren oft. Dies führt dann zu solch gravierenden Folgen wie schlechtere gesundheitliche Aussichten, höheren Hospitalisierungsraten oder einem größeren Sterberisiko. Um entsprechend gegensteuern zu können, sei es wichtig, persönliche und allgemeine Einschränkungen frühzeitig zu identifizieren, so das Autorenteam.
Die Gründe, warum Senioren mit der Zeit immobiler werden, sind vielfältig: Muskelabbau, Erkrankungen der Gelenke und des Herz-Kreislauf-Systems, Gleichgewichts- sowie Sehprobleme. Aber auch kognitive Aspekte zählen dazu. So nimmt z.B. die Geschwindigkeit der Informationsverarbeitung und die Aufmerksamkeit ab. Gehen „funktioniert“ im Alter nicht mehr so automatisch wie in jüngeren Jahren, weshalb die Gangkontrolle einen größeren Teil der kognitiven Rechenleistung von Älteren beansprucht.
Objektiv mobil
Negativspirale aus Angst und unsicherem Gang
Ebenso tragen Barrieren im Alltag zum erhöhten Sturzrisiko der Senioren bei. Dazu zählen Treppen ohne Handläufe, schummrige Beleuchtung oder eine schlechte Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr. Es verwundert also kaum, dass Stürze im höheren Lebensalter recht häufig vorkommen. Jeder dritte selbstständig lebende Mensch über 65 Jahre macht mindestens einmal im Jahr diese Erfahrung. Bei den über 80-Jährigen ist es sogar jeder zweite und in Pflegeheimen liegt die Rate noch höher. Dass die Inzidenzrate von sturzbedingten Hüftfrakturen bei den über 75-Jährigen zwischen 1994 und 2004 um 20 000 Fälle gestiegen ist, liege jedoch nicht nur am größeren Anteil betagter Menschen in der Bevölkerung, sondern auch am höheren Sturzrisiko in dieser Alterskohorte, erklären die Kollegen. Doch selbst wenn die Knochen heil bleiben, bekommt häufig das Selbstvertrauen der Betroffenen einen Knacks. Die Zuversicht, nicht zu stürzen, sowie die Überzeugung, drohende Gefahren zu bewältigen, gehen verloren. Es droht eine Negativspirale: Aus Angst vor dem Hinfallen wird Bewegung vermieden, wodurch man noch unsicherer beim Gehen wird – und die Gefahr zu stürzen steigt.Nach subjektiver Einschätzung der Patienten fragen
Zwischen 21 % und 85 % der über 65-Jährigen erleben solche Ängste, schreiben die Wissenschaftler. Sogar dann, wenn sie noch gar nicht hingefallen sind. Verständlicher wird dies vor dem Hintergrund, dass ältere Personen einen Sturz nicht per definitionem als „unbeabsichtigt auf dem Boden oder einer tieferen Ebene zum Liegen kommen“ ansehen. Sie nehmen mitunter bereits Stolpern oder Schwanken als Stürzen wahr. Die Autoren empfehlen daher, im Gespräch mit hochbetagten Patienten nicht nur nach einem „Sturz“ innerhalb der letzten zwölf Monate zu fragen, sondern auch, ob der Patient „gefallen“ ist oder sich „unsicher im Gleichgewicht“ fühlt. Um das individuelle Sturzrisiko abzuschätzen, braucht es neben objektiven Aspekten wie der Anzahl bereits erfolgter Sturzereignisse und der Erfassung der Mobilität (s. Kasten) also auch die subjektiven Einschätzungen der Patienten selbst. Vorbeugen lassen sich Stürze bei älteren Patienten vor allem mithilfe von spezifischen Trainings, in denen Gleichgewichts- und Kraftübungen miteinander kombiniert werden. Idealerweise gehen diese über mindestens 50 Einheiten und werden mit der Zeit intensiviert. Sie können einzeln oder in der Gruppe durchgeführt werden.Sturzrisiko mit zwei Fragen abschätzen
- Ist der Patient in den letzten zwölf Monaten mindestens zweimal gestürzt? (2 Punkte)
- Nimmt der Patient ≥ 6 Medikamente ein? (1 Punkt)
Quelle: Freiberger E et al. Dtsch Med Wochenschr 2020; 145: 932-943; DOI: 10.1055/a-0922-7535