Coronaimpfung: Wie sich die Aufhebung der Priorisierung in den Praxen bemerkbar macht
Ab dem 7. Juni hat jeder Bürger den gleichen Anspruch auf einen Termin für eine COVID-19-Impfung, unabhängig davon, ob er chronisch krank ist oder nicht. Derweil hat das Unternehmen BioNTech/Pfizer bereits angekündigt, bis Ende Juni weniger Vakzin zu liefern als vorgesehen. Hausärzte, die wissen möchten, wie sich das auf ihren Praxisalltag auswirken wird, können einen Blick nach Bayern oder Baden-Württemberg werfen. Hier fiel die Priorisierung bereits vor einigen Wochen.
„Der Andrang der Patienten ist wirklich extrem. Das ist nicht mehr zu bewältigen“, berichtet Siglinde Auer-Neuner, Medizinische Fachangstellte in einer Hausarztpraxis im bayerischen Burgkirchen an der Alz. „Wir haben zwei Telefone an der Anmeldung und beide stehen nicht mehr still. Eigentlich bräuchten wir eine weitere Ganztagskraft, die sich nur noch um das Telefon kümmert.“
Zwar sei die Nachfrage der Patienten schon zuvor hoch gewesen. Doch in den letzten Wochen habe sich die Anspruchshaltung noch einmal verändert. „Es ist ein unglaubliches Ich-Denken. Jeder meint, er kann sich jetzt melden und wird gleich geimpft. Als hätten wir den Impfstoff im Kühlschrank und würden nur darauf warten, dass die Leute anrufen.“
Drängler behaupten, sie seien chronisch krank
Die Praxis vergibt die Termine weiterhin an Personen, deren Immunisierung medizinisch wichtig ist. „Etwas anders ist doch gar nicht zu vermitteln“, begründet Auer-Neuner. Auch der Bayerische Hausärzteverband plädiert für dieses Vorgehen.
Besonders ungeduldige Patienten entwickeln neue Strategien, um schneller dranzukommen: „Einige rufen zweimal die Woche an, um sich in Erinnerung zu bringen. Andere erklären, sie seien chronisch krank – dabei sehen wir doch, dass ihnen nie Medikamente wegen Asthma, Bluthochdruck oder Ähnlichem verordnet wurden. Patienten, die die Handynummer des Arztes haben, rufen ihn darüber an, um eine Impfung einzufordern.“ Vor allem Privatpatienten würden oft drängeln.
Um Anrufer freundlich und doch effizient zu vertrösten, erklärt Auer-Neuner ihnen, dass auch die Praxis nicht glücklich über die Impfsituation sei und jedem ein Angebot machen würde, wenn ausreichend Vakzine vorhanden wären. Auch die Praxisberaterin Diana Lamers aus Billerbeck rät zu dieser argumentativen Taktik. „Die Verbrüderung gegenüber der Gesamtsituation hilft dem Gespräch“, führt sie aus. Daraufhin müsse ein Lösungsvorschlag folgen. „Mit wenigen Worten und in kurzen Sätzen sollte dem Patienten klar gesagt werden, wie die Vorgehensweise der Praxis ist. Also ob es etwa eine Warteliste gibt und wie Personen, die nachrücken, informiert werden.“ Hinsichtlich der Wartezeit empfiehlt sie Transparenz. Im Zweifel sollte das Team lieber übertreiben, als falsche Hoffnungen zu wecken.
Bestimmte Worte, die die Kommunikation unbewusst in eine negative emotionale Richtung bringen, sollten nach Meinung der Expertin vermieden werden. Dazu gehören etwa „Nein, das geht nicht“ und „leider erst“. Zudem müssen die Angestellten darauf achten, dem Anrufer nicht ins Wort zu fallen, auch wenn sie zigmal am Tag das Gleiche hören. „Wer nicht ausreden kann, ist gedanklich noch mit dem beschäftigt, was er eigentlich noch sagen oder fragen wollte und hört gar nicht richtig zu, wenn ihm etwas erklärt wird.“
Auer-Neuner hat die Erfahrung gemacht, dass die meisten Patienten im Laufe solcher Gespräche verständnisvoll einlenken. Einige würden aber darauf beharren, dass die Landesregierung doch gesagt habe, jeder könne sich jetzt impfen lassen. Die MFA hält es daher für einen politischen Fehler, die Priorisierung aufzuheben, solange noch nicht genug Impfstoff vorhanden ist.
Zudem sei AstraZeneca für Arztpraxen ungeeignet, da viele Patienten über 60 das Vakzin ablehnen würden, obwohl gerade sie damit immunisiert werden sollen. „Es braucht unendliche Überredungskünste, bis man mal zehn Dosen davon an die Impflinge gebracht hat“, berichtet die MFA. Bei Sonderimpfaktionen im nahe gelegenen Impfzentrum Altötting, in dem sie nebenher mithilft, finde das Präparat hingegen reißenden Absatz bei jungen Menschen und anderen Personen ohne Priorität, die ihre „Freiheit“ schnell erlangen möchten.
Arzt kommt schneller voran, wenn er Impflinge selbst wählt
Auch in Baden-Württemberg ist die Priorisierung bereits gefallen. Für den Hausarzt Dr. Frank-Dieter Braun, zweiter Vorsitzender des Hausärzteverbandes im Land, war dies eine Erleichterung. Zwar muss er in seiner Praxis in Biberach an der Riss mittlerweile am Telefon mithelfen, um den Andrang noch bewältigen zu können. Doch der Praxisablauf lasse sich ohne Priorisierung insgesamt flüssiger gestalten – auch, weil das Team nicht mehr darauf angewiesen sei, zwingend jene Patienten zu erreichen, die nach gesetzlicher Reihenfolge dran wären. „Telefonieren Sie doch mal einem Rentner hinterher, wenn schönes Wetter ist. Den erreichen sie nicht“, erklärt der Arzt. „Am Ende erfahren Sie, dass er schon im Impfzentrum immunisiert wurde.“ Die Aufhebung der Priorisierung sei politisch dringend erforderlich gewesen, um voranzukommen.
Die Praxis klärt Patienten auf der Homepage über ihr Vorgehen auf: Wer sich AstraZeneca oder Johnson und Johnson injizieren lassen möchte, bekommt recht zügig einen Termin, wer BioNTech will, muss warten. Inzwischen hat Dr. Braun all seine älteren Patienten durchgeimpft. „Es wird höchste Zeit, dass jetzt Schüler an die Reihe kommen. Sie hatten ein Jahr lang das Nachsehen“, betont der Hausarzt. Er befürchtet, dass sie sich sonst zu „Dummheiten“ wie Coronapartys verleiten lassen, um per Infektion Antikörper zu bilden.
Künftig könnte ein neuer Aufwand auf die Praxen zukommen: Ärzte sollen ihren Patienten möglichst auch COVID-19-Impfzertifikate erstellen, sofern sie bereit sind, diese Leistung zu erbringen.
Honorar für Corona-Impfzertifikate
Medical-Tribune-Bericht