Drei KI-Anwendungen für die Arztpraxis
Montagmorgen: Das Wartezimmer platzt aus allen Nähten, minütlich klingelt das Telefon, die Fachangestellten ächzen und der Arzt fasst sich im Gespräch kurz. Von den Patienten heißt es: „Ich komme telefonisch kaum zu Ihnen durch“ und „Sie nehmen sich zu wenig Zeit für mich“.
In solchen Momenten kann Künstliche Intelligenz das Team unterstützen. Bei einem Workshop der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen haben drei Start-ups ihre Anwendungen präsentiert. Sie sollen den telefonischen Andrang entschärfen, die Anamnese vereinfachen oder Patienten durch das Gesundheitssystem lotsen.
Zwei der Projekte gewannen bei einem Ideenwettbewerb der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, der „KBV-Zukunftspraxis“.
Aaron.ai: Künstlicher Mitarbeiter am Telefon
Der intelligente Telefonassistent des Unternehmens „Aaron.ai“ soll die Praxis unterstützen, indem er Anrufe entgegennimmt. Sobald jemand anruft, prüft er, ob ein Mitarbeiter zu sprechen ist. Wenn das nicht der Fall ist, übernimmt er selbst: Zu Beginn fragt „Aaron.ai“ gemäß DSGVO, ob der Anrufer mit der Aufzeichnung einverstanden ist. Antwortet der Patient mit „ja“, wird das Gespräch mitgeschnitten und gespeichert, sowohl als Tonspur als auch schriftlich. Ist der Anrufer nicht einverstanden, wird der Dialog nur schriftlich erfasst.
Im zweiten Schritt fragt „Aaron.ai“, warum der Patient anruft. Auf die Antwort kann er selbstständig reagieren. Geht es z.B. um ein Rezept, bittet er darum, den Namen des Medikaments und die Dosierung zu nennen. Auch andere Standardanfragen wie Terminwünsche oder die Frage nach Befunden kann der Assistent erfassen. Abschließend fragt er nach Name, Geburtsdatum und Versicherung des Patienten. Das aufgezeichnete Gespräch kann von den Mitarbeitern in einer Webanwendung gelesen oder selektiv angehört werden. Auch die Telefonnummer des Anrufers ist sichtbar. Die medizinischen Fachangestellten können die Anfrage also prüfen und den Patienten über „Aaron.ai“ zurückrufen oder eine SMS schreiben.
Laut Richard von Schaewen, einem der Gründer des Start-ups, spart der Assistent Zeit, weil Anrufer ihm „keine Romane erzählen“, sondern zielgerichtet kommunizieren. Sagen Patienten, es gehe um einen Notfall, weist der Assistent darauf hin, dass der Bereitschaftsdienst oder die 112 gewählt werden sollten. In der Webanwendung ist der Anruf markiert.
Das Praxisteam kann selbst einstellen, zu welchen Zeiten „Aaron.ai“ rangeht. Bei Bedarf kann er alle Anrufe direkt annehmen, ohne vorher zu prüfen, ob ein Mitarbeiter zu sprechen ist. Er beherrscht auch Türkisch und grüßt bei entsprechder Einstellung zweisprachig. Der Anrufer kann die Sprache dann wählen. Da der Assistent über eine Cloud funktioniert, ist keine neue Hard- oder Software erforderlich. Die Installation dauere etwa 10 Minuten, meint von Schaewen. Um zu lernen, wie man „Aaron.ai“ bedient, reiche eine 15-minütige Schulung.
Die Teilnehmer der Workshops wollten wissen, wo die Grenzen des Assistenten liegen. Von Schaewen räumte ein: Die Spracherkennung sei noch nicht perfekt. Starke Dialekte und Akzente sowie Nuscheln können derzeit nicht verarbeitet werden.
In Zukunft soll der Telefonassistent auf den Terminkalender des Praxisverwaltungssystems zugreifen. Die Mitarbeiter können ihm dann erlauben, für angegebene Zeitspannen selbstständig Termine zu vereinbaren. Wann das möglich sein wird, ist allerdings noch nicht bekannt.
Der Telefonassistent zählt zu den zehn Gewinnern eines Ideenwettbewerbs der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, der „KBV-Zukunftspraxis“. Aaron.ai wird derzeit als erstes Gewinnerprojekt in 50 Arztpraxen getestet. 2021 wird ausgewertet, wie er Effizienz und Qualität beeinflusst.
Idana: Digitale Fragebogen für die Anamnese
Die Software „Idana“ der Tomes GmbH digitalisiert die Anamnese und soll dem Arzt „mehr Zeit für Medizin“ geben. Das Programm bietet Fragebogen zu häufigen Erkrankungen wie Kopfschmerzen und Rückenschmerzen, auch Aufklärungsformulare zur DSGVO sind vorhanden.
Sobald Patienten einen Termin vereinbaren, senden die Fachangestellten ihnen eine Standardmail mit einem Link. Dieser leitet auf den Fragebogen weiter. Alternativ kann die Praxis eigene Tablets anbieten, auf denen der Fragebogen im Wartezimmer ausgefüllt wird. Laut Dr. Lucas Spohn, dem Geschäftsführer der Tomes GmbH, benötigt eine Praxis mit 1000 Scheinen zwei Tablets, damit alles reibungslos funktioniert.
Die Dokumente werden digital unterschrieben und automatisch in der Patientenakte abgelegt. „Idana“ verarbeitet die Eingaben zu einem Bericht für den Arzt und sortiert wichtige Inhalte nach oben, beispielsweise „red flags“. Am Tag des Termins kennt der Mediziner die Beschwerden folglich bereits. Das Unternehmen erhofft sich, dass er dadurch konkreter auf den Patienten eingehen kann. Auch der Patient soll sich besser auf das Gespräch vorbereitet fühlen.
Im hausärztlichen Bereich sind laut Spohn schon viele Fragebogen verfügbar. Das Unternehmen bietet aber auch einen Editor an, mit dem eigene Fragebogen erstellt werden können, „red flags“ definiert der Arzt dabei selbst. Benötigt eine Praxis nur wenige eigene Fragebogen, bietet das Start-up an, sie in „Idana“ zu übernehmen.
In Zukunft will das Unternehmen aus den Fragebogen einen Mehrwert für Ärzte generieren. Beispielsweise sei vorstellbar, dass „Idana“ den Krankheitsverlauf chronischer Patienten in Diagrammen abbildet.
Einige Teilnehmer des Workshops waren skeptisch. Anders als im direkten Gespräch entgehe Ärzten die nonverbale Kommunikation ihrer Patienten, wenn sie „Idana“ nutzen. Die Anamnese sei dadurch schlechter. Dr. Spohn entkräftete das: „Patienten sind beim Ausfüllen des Fragebogens häufig ehrlicher, als wenn sie einem Arzt gegenübersitzen. Das Schamgefühl ist geringer.“ Letztendlich entscheide außerdem die Praxis darüber, wer einen Fragebogen bekomme.
„Idana“ kostet bei einem einjährigen Vertrag 99 Euro pro Arzt und Monat, bei einem dreijährigen Vertrag 79 Euro pro Arzt und Monat.
Die Software belegte den zweiten Platz der „KBV-Zukunftspraxis“.
Docyet: Medizinische Ersteinschätzung per App
Das Start-Up „Docyet“ hat eine gleichnamige App entwickelt, die eine erste Einschätzung von Krankheiten gibt und den Patienten anschließend durch das Gesundheitssystem lotst.
Zunächst nennen die Nutzer ein Krankheitsanzeichen, unter dem sie leiden. Die App fragt in einem Chat schrittweise nach weiteren Symptomen. Am Ende nennt sie dem Nutzer die Erkrankungen, um die es sich handeln könnte. „Docyet“ soll auch eine Triage leisten: Ergeben die eingegebenen Symptome, dass ein Notfall vorliegen könnte, bricht die App die Einschätzung ab und meldet dem Nutzer, dass er ins Krankenhaus gehen oder den Notdienst rufen sollte. Bei harmlosen Erkrankungen wie etwa Schnupfen teilt die App dem Nutzer mit, dass er nicht zwingend einen Arzt aufsuchen muss. Je nach Erkrankung empfiehlt sie einige Hausmittel. Falls die Symptome auf eine Krankheit hinweisen, die ein Arzt begutachten sollte, informiert die App den Nutzer darüber, wo er die nächste Praxis findet.
Florian Bontrup, einer der Gründer des Start-Ups, meint, die App sei besser als der Medizinische Bereitschaftsdienst. Dieser würde Patienten nie sagen, dass sie keinen Termin brauchen, höchstens einen späteren. „Docyet“ dagegen setze auf gesunden Menschenverstand. Patienten könnten lernen, dass sie bei harmlosen Erkrankungen nicht zum Arzt müssen. „Wir hoffen auf einen erzieherischen Effekt“, erklärt Bontrup. Die App kennt derzeit 1500 Symptome und 800 Krankheitsbilder. Sie wird von Krankenkassen finanziert und den Versicherten zur Verfügung gestellt. Ärzte können sie ihren Patienten empfehlen.
KI-Workshop der KV Hessen