Digitalisierung, Krankenhäuser, Finanzinvestoren – Ärzteschaft und Minister machen sich Zukunftsgedanken
Der 124. bzw. 1. digitale Deutsche Ärztetag bot den geeigneten Sendeplatz für den Gesprächsbedarf und die Forderungen der deutschen Ärzteschaft. Einen Tag zuvor hatte schon die KBV-Vertreterversammlung virtuell getagt und ihr Konzept für die Zeit bis 2025 publik gemacht. War man dort noch verstimmt über die geringe öffentliche Wertschätzung der kassenärztlichen Verdienste während der Pandemie durch politische Würdenträger, sparten Kanzlerin und Bundesgesundheitsminister beim Ärztetag nicht am Dankeschön. „Für Ihren aufopferungsvollen Einsatz für die Patienten, wie auch beim Testen und Impfen danke ich Ihnen von ganzem Herzen“, erklärte Dr. Angela Merkel per Videobotschaft. Und Jens Spahn erinnerte sich gern an seinen Besuch im Hamburger Impfzentrum zurück.
Fristen für ePA, eAU und eRezept verlängern!
Allerdings zeigte der Minister durchaus inhaltliche Differenzen zum Leitantrag des Bundesärztekammervorstandes für den Deutschen Ärztetag auf. Dass darin von einer „überhasteten“ Digitalisierung die Rede ist, verwunderte ihn angesichts der zähen Entwicklung seit 2006.
Spahn appellierte an die Ärzte, sich schnellstmöglich den elektronischen Heilberufsausweis anzuschaffen, um die elektronische Patientenakte/ePA (ab dem 01.07.2021), die elektronische AU-Bescheinigung (ab dem 01.10.2021) und das elektronische Rezept (ab dem 01.01.2022) nutzen zu können. KBV und Ärztetag halten diese Fristen für unrealistisch und wünschen Aufschub. Spahn versprach: Wenn Ärzte die neuen Dienste objektiv nicht fristgerecht nutzen können, „soll es keine Sanktionen geben“. Die gematik hat gerade das erste von drei Konnektoren-Upgrades für die ePA zugelassen.
Dass Formulare, etwa AU und Rezept, noch jahrelang zusätzlich auf Papier ausgedruckt werden, sei ein „Übergangsphänomen“, meint der Minister. Ihn freut insbesondere die Wende bei der Videosprechstunde, die aufgrund der Pandemie in vielen Praxen Einzug gehalten hat. Beim 121. Deutschen Ärztetag 2018 in Erfurt sei er mit seinen Worten zu dieser Option noch auf breites Desinteresse gestoßen.
KBV und KVen, vom Gesetzgeber und in der Pandemie dazu getrieben, die als bundeseinheitliche Rufnummer des ärztlichen Bereitschaftsdienstes eingeführte 116117 um neue Dienste zu erweitern (Arztterminvermittlung, Corona-Hotline, geplant: Vermittlung telemedizinischer Leistungen), wollen die Terminservicestelle sogar zur „sektorenübergreifend nutzbaren Plattform“ ausbauen, um „ePA-Dokumente für Patienten bürokratiearm verfügbar zu machen“. Die Plattform soll Ärzte dabei unterstützen, behandlungsfall- und patientenbezogene Informationen, die mit der ePA kompatibel sind, rasch und direkt auszutauschen. Die KV-Vorstände haben für ein Ausschreibungsverfahren Anforderungen an einen „Patientenkonto“-Service formuliert. Zum konkreten Zeitplan sagt KBV-Vorstand Dr. Thomas Kriedel: „So schnell wie möglich.“
Im KBV-2025-Konzept fehlen natürlich nicht die „Intersektoralen Gesundheitszentren“, die von KVen als Eigeneinrichtungen initial und subsidiär betrieben werden könnten. Die KBV schlägt vor, Krankenhausstandorte zu identifizieren, die sich für eine (Teil-)Umstrukturierung in eine „erweiterte ambulante Versorgung“ mit Übernachtungsmöglichkeiten für Patienten eignen.
Das ist eine Idee, die zu den Vorstellungen von Krankenkassen, Public-Health-Wissenschaftlern und denen des Bundesgesundheitsministers passt. „Wir haben in jeder deutschen Großstadt Überversorgung“, sagte Spahn bei der Eröffnung des Ärztetages über die Kliniklandschaft. Die Vernetzung und Spezialisierung der Krankenhäuser sei allerdings keine Frage von Einsparungen, sondern eine der Qualitätssicherung. Er deutete an, dass er im Klinikbereich gerne mehr legislativ unternommen hätte. Doch dann kam Corona.
Spezialisierte Versorgung ist wichtiger als kurze Wege
Dass das deutsche Gesundheitswesen auch dank seiner stationären Infrastruktur zu keinem Zeitpunkt der Pandemie überlastet war, will der Minister nicht als Argument gelten lassen, um auf strukturelle Veränderungen zu verzichten. Man müsse den Bürgern erklären, welche Risiken ihnen drohen, wenn sie einen komplexen Eingriff in einem nahen Krankenhaus vornehmen lassen, wo das selten passiert, statt in einem entfernten spezialisierten Haus. Spahn spricht allerdings von einer „Jahrzehntdebatte“, die mit Bundesländern, Landkreisen und Klinikbetreibern zu führen sei.
Der Deutsche Ärztetag fordert, direkt nach der Bundestagswahl „die überfällige Reform des G-DRG-Systems“ unter Einbindung der maßgeblichen ärztlichen Verbände und Institutionen einzuleiten. Die Betriebsmittelfinanzierung müsse sich prioritär an den Kriterien Personalbedarf, Flächendeckung und Vorhalteleistungen ausrichten. Bei der Investitionsfinanzierung der Länder sei zum Auflösen des Investitionsstaus eine dauerhafte Kofinanzierung durch den Bund notwendig.
Kritisch sieht der Ärztetag die Übernahmen von Praxen und anderen Gesundheitseinrichtungen durch Private-Equity-Gesellschaften. Aufgrund deren vorwiegend renditeorientierten Motivation bestehe die Gefahr, dass medizinische Entscheidungen zugunsten einer kommerziell motivierten Leistungserbringung beeinflusst werden. Der Ärztetag verlangt eine Begrenzung der Beteiligungsmöglichkeiten von Finanzinvestoren in der ambulanten Versorgung. Die Größe und der Versorgungsumfang von MVZ sollte begrenzt werden. „Gewinnabführungs- und Beherrschungsverträge mit externen Kapitalgebern sind zu unterbinden.“
Auf dieses Thema angesprochen, blieb Spahn vage. Es gelte sinnvolle Instrumente zu finden, um etwa gegen eine regionale Vormachtstellung vorzugehen. Insgesamt dürfe aber die MVZ-Entwicklung nicht infrage gestellt werden, so der Minister.
Die Ambulantisierung der Medizin bewirkt auch, dass im Krankenhaus jungen Ärzten in der Weiterbildung nicht mehr alle Kompetenzen vermittelt werden können, weil wesentliche Teile der Behandlung nur noch ambulant stattfinden. Dies gelte neben der Allgemeinmedizin insbesondere für die Augenheilkunde, Dermatologie, HNO-Heilkunde und Orthopädie, stellt die KBV fest.
Sie fordert den Ausbau der fachärztlichen Weiterbildung in den Praxen. Zusätzlich zur bisherigen, hälftig von Kassen und KVen finanzierten Weiterbildung könnte es Weiterzubildenden auch ermöglicht werden, je nach erworbener Qualifikation „als angestellte Ärzte Leistungen zu erbringen, die die Krankenkassen vollständig und extrabudgetär vergüten“. Das wäre ein Abweichen vom jetzigen Facharztstatus in der Versorgung.
Für dringlich hält die KBV ferner die Entwicklung ärztlich geleiteter Teams, denen auch Pflegefachkräfte oder Fallmanager angehören könnten. Die Körperschaft spricht sich für das zeitweise Übertragen von Teilen der Behandlung durch Mediziner auf nichtärztliche Gesundheitsfachberufe aus. Diese führen die Leistungen dann eigenverantwortlich durch und informieren den delegierenden Arzt oder Psychotherapeuten. Eine direkte Leistungserbringung und Abrechnung soll ihnen nicht möglich sein. Höchstpersönlich zu erbringende Leistungen, wie Indikationsstellung, therapieleitende Entscheidungen oder die Arzneiverordnung, bleiben von einer Delegation ausgenommen. Die KBV plädiert für das gemeinsame Anstellen von arztunterstützendem Personal durch mehrere Praxen („Personalpool“).
Klare Linie zwischen Hausarzt und akademisierter MFA
Eine Delegation an akademisierte Assistenzberufe wie „den Physician Assistant oder die akademisierte MFA“ wird an Bedingungen geknüpft. Qualifizierungsvoraussetzung soll eine abgeschlossene Ausbildung in einem medizinischen Beruf (z.B. MFA) sein. Und im Bundesmantelvertrag habe eine eindeutige Definition des hausärztlichen Versorgungsauftrages zu erfolgen, die das Übertragen der darin festgelegten ärztlichen Aufgaben auf die neuen Assistenzberufe ausschließt.
Quelle: KBV-Vertreterversammlung, 124. Deutscher Ärztetag