Alt mit gutem Schmerzgedächtnis

Stefanie Menzel

Zur Neuropathiediagnostik gehört auch, das Vibrationsempfinden zu testen. Zur Neuropathiediagnostik gehört auch, das Vibrationsempfinden zu testen. © Science Photo Library/Varney, Jim

Neuropathische Schmerzen beeinträchtigen die Lebensqualität von Betroffenen erheblich. Und wie so oft zahlt sich frühzeitiges Gegensteuern aus. Doch bei älteren Patienten sind einige Besonderheiten zu beachten.

Neuropathische Schmerzen betreffen 7–10 % der Gesamtbevölkerung – Tendenz mit dem Alter zunehmend. Auslöser sind Verletzungen oder degenerative Veränderungen von peripheren Nerven und Strukturen des ZNS. Je nach Genese variieren Qualität, Intensität und Lokalisation der Beschwerden. Typisch sind Brennen, Stechen, anfallsartig einschießende Attacken oder Missempfindungen. Auch eine Überempfindlichkeit auf normalerweise schmerzlose Reize (Allodynie) Hyperalgesie oder Hypästhesie und Taubheitsgefühl kommen vor.

Senioren nehmen Schmerzen oft als schicksalhaft hin

Durch neuronale Anpassungen verschiebt sich die Schmerzschwelle. Hat sich die Pein erst etabliert, droht die Entwicklung eines Schmerzgedächtnisses, das chronifizieren kann. Gerade Senioren nehmen Schmerzen oft als schicksalhaft hin und bringen sie von sich aus nicht zur Sprache. Professor Dr. Frank Block von der Neurologischen Klinik der HELIOS Kliniken Schwerin rät daher, ältere Patienten routinemäßig nach etwaigen Schmerzen zu fragen.

Die Symptome verstärken sich typischerweise nachts. Bei älteren Menschen gehen auf diese Weise Schmerzen, Schlafstörungen und die häufig ohnehin vorhandene Neigung zu Vereinsamung und Depression eine fatale Allianz ein. Besondere Probleme bereitet es, Schmerzen bei Demenzkranken zu erkennen, zumal validierte Messinstrumente für diese spezielle Situation fehlen. Eine entsprechende Diagnose wird unter den Betroffenen zu einem Drittel bis zur Hälfte seltener gestellt als unter kognitiv Gesunden.

In der Anamnese erfasst man zugrunde liegende Krankheitsbilder, Ausprägung, Qualität und Dauer der Symptome. Anhand visueller Analog- oder numerischer Rating-Skalen kann der Patient seine Beschwerden selbst einstufen. Neurologisch relevant sind Änderungen im Berührungs-, Schmerz-, Vibrations- und Temperaturempfinden sowie des Lagesinns. Mithilfe von standardisierten Reizimpulsen lassen sich Wahrnehmungsschwellen der Haut bestimmen (Hitze, Kälte, Druck). Apparative Diagnostik oder eine Biopsie können je nach vermuteter Ursache der Beschwerden hinzukommen. 

Mögliche Ursachen neuropathischer Schmerzen

peripher:
  • Diabetes mellitus
  • Z.n. Chemotherapie
  • toxische Polyneuropathie
  • Gammopathie
  • Herpes Zoster
  • idiopathische Trigeminusneuralgie
  • Guillain-Barré-Syndrom
  • Engpasssyndrome
  • Radikulopathien
  • Nervenläsion durch Trauma
  • komplexes regionales Schmerzsyndrom (CRPS)
zentral:

Bei Demenzpatienten gilt es, auf Mimik, Laute oder Bewegungen zu achten. Zudem können Agitation, Aggression, Apathie, Schlaf- und/oder Essstörungen Zeichen von Schmerzen sein. Prof. Block empfiehlt, Angehörige und Pflegende einzubeziehen und strukturierte Interviews zu führen. Die kausale Behandlung richtet sich nach der jeweiligen Grunderkrankung. Eile ist bei Zoster-Patienten geboten. Ihr Risiko, eine postherpetische Neuralgie zu entwickeln, lässt sich durch Virustatika deutlich senken, sofern diese binnen drei Tagen nach Aufflammen der Effloreszenzen verabreicht werden. Die nicht-medikamentöse Behandlung basiert auf zwei Säulen: körperliches Training (Beweglichkeit, Ausdauer, Kraft) und verhaltens­orientierte Verfahren. Dazu gehören:
  • Entspannungstherapie
  • kognitiv-behavoriale Therapie
  • operante Schmerztherapie
  • Biofeedback.
Entsprechende kognitive Fähigkeiten vorausgesetzt, profitieren gerade ältere Patienten von einer multimodalen Behandlung – nicht zuletzt, weil sich damit die Medikation oftmals ein wenig reduzieren lässt. Das medikamentöse Vorgehen richtet sich nach dem Schmerzcharakter und nicht nach der Grunderkrankung: Trizyklische Antidepressiva eignen sich besonders für brennende Schmerzen, Antiepileptika für anfallsartig einschießende. Liegt ein gemischtes Symptombild vor, beginnt man mit einem Antidepressivum und nimmt ggf. ein Antikonvulsivum hinzu. Als Ultima Ratio gelten Opioide. Wichtig: Neben- und Wechselwirkungen im Auge zu behalten. Senioren mit mehreren Erkrankungen nehmen im Schnitt neun Medikamente ein. Bei ihnen muss man die Verordnung von trizyklischen Antidepressiva, darunter Amytriptylin, aufgrund des Nebenwirkungsprofils (AV-Block, Glaukom, Miktionsstörungen, Delir, kognitive Einbußen) sorgfältig abwägen. Antikonvulsiva können Ataxie, Vertigo und Gang­unsicherheit befördern. Zudem werden Gabapentin und Carbamazepin mit Enzephalopathien in Verbindung gebracht. Carbamazepin sollte man laut Prof. Block bei Älteren ausschließlich zur Behandlung der Trigeminusneuralgie einsetzen, bei der es als wirksamstes Mittel gilt. Häufigste Nebenwirkung von Opioiden ist die bei Senioren ohnehin latent vorhandene Obstipation. Ballaststoffreiche Kost, ausreichende Flüssigkeitszufuhr sowie Lactulose, Natrium-Picosulfat oder Bisacodyl schaffen Abhilfe. Wie immer bei Opioiden richtet sich der Blick auf die Kontrolle von Vigilanz und Atemfunktion.

Reduktion der Beschwerden um 50–80 % ist realistisch

Dosierung und Applikation müssen an altersbedingte Veränderungen angepasst werden, z.B. die eingeschränkte hepatische und renale Elimination. Start- und Maximaldosis liegen unter der für Jüngere empfohlenen, die Steigerung erfolgt behutsam. Generell rät Prof. Block zur oralen Darreichungsform, bei Opioiden nach Möglichkeit als Retard-Präparat. Für Patienten mit Schluckstörungen stehen z.B. Mirtazapin-Schmelztabletten, Pregabalin-Lösung, Opioidpflaster und Tilidin/Naloxon-Tropfen zur Verfügung – letztere gibt es im Gegensatz zu den Tabletten allerdings nur auf BTM-Rezept. Lidocain- und Capsaicin-Pflaster eignen sich bei lokal begrenzten Schmerzen. Generell ist für die Behandlung von neuropathischen Schmerzen ein hohes Maß an Adhärenz vonnöten. Betroffene sollten über das Wesen einer Neuropathie aufgeklärt und explizit auf Wirkweise und mögliche Nebenwirkungen der Medikation hingewiesen werden. Dazu gehört auch der Hinweis, dass sich eine Linderung oft erst nach Wochen einstellt und sich zunächst vor allem Nebenwirkungen bemerkbar machen. Auch darf man dem Patienten nicht verschweigen, dass Schmerzfreiheit nur selten erreicht wird, eine Reduktion der Beschwerden um 50–80 % jedoch realistisch ist.

Quelle: Block F. DNP 2021; 22: 36-39

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