Polyneuropathien
Polyneuropathien sind generalisierte Erkrankungen des peripheren Nervensystems, die zahlreiche Ursachen haben können. Zum peripheren Nervensystem gehören alle sensiblen, motorischen und autonomen Nerven außerhalb des ZNS und die dazugehörigen Strukturen.
Zu den häufigsten Ursachen gehören Diabetes mellitus (diabetische Polyneuropathie) und chronischer Alkoholmissbrauch (alkoholische Polyneuropathie). Seltener findet man infektiöse, endokrine, exogen toxische oder genetische Ursachen.
Eine Einteilung kann nach verschiedenen Parametern erfolgen:
Verteilungsmuster:
- distal - proximal
- symmetrisch - asymmetrisch
Betroffene Faserqualitäten:
- sensible Polyneuropathie
- motorische Polyneuropathie
- sensomotorische Polyneuropathie
- autonome Polyneuropathie
Ätiologie:
- idiopathische Polyneuropathie
- metabolische Polyneuropathie (z.B. Diabetes, Urämie, Hypothyreose, Hyperlipidämie, Akromegalie, Gicht, Hepatopathien, Porphyrie)
- toxische Polyneuropathie (z.B. Medikamente, Alkohol, Schwermetalle)
- infektiöse Polyneuropathie (z.B. Borreliose, Lepra, HIV)
- genetische Polyneuropathie (z.B. Hereditäre motorische und sensible Polyneuropathie, hereditäre Polyneuropathie mit Neigung zu Druckparesen, Friedreich-Ataxie, Amyloidose)
- Mangel- und Fehlernährung (z.B. Vitamin B12-Mangel)
Verlauf:
- ≤ 4 Wochen: akut (z.B. Guillain-Barré-Syndrom - GBS)
- 4–8 Wochen: subakut •
- >8 Wochen: chronisch
Am häufigsten ist die distal symmetrische Polyneuropathie mit vorwiegend sensibler Symptomatik, die an den Beinen beginnt und durch eine längenabhängige Schädigung des Axons bedingt ist.
ICD10-Code: G60-G64
Sensible Reiz- und Ausfallerscheinungen:
- Kribbeln
- Ameisenlaufen
- Wärme- und Kälteparästhesien
- Stechen
- Elektrisieren
- Pelzigkeits- und Taubheitsgefühle
- Gefühl des Eingeschnürtseins
- Schwellungsgefühle
- Gefühl des unangenehmen Drucks
- Gefühl, wie auf Watte zu gehen
- Gangunsicherheit insbesondere bei Dunkelheit
- fehlende Temperaturempfindungen
- schmerzlose Wunden
Motorische Reiz- und Ausfallerscheinungen:
- Muskelzucken
- Muskelkrämpfe
- Muskelschwäche
- Muskelatrophie
- Frühes Zeichen: Parese Zehenspreizung, Atrophie kurze Zehenextensoren
Autonome Ausfallerscheinungen:
- Somatische Nerven
- Pupillenstörungen
- trophische Störungen: Ödem, Ulkus, Osteoarthropathie
- Hypo-/Anhidrosis
- vasomotorische Störungen: orthostatische Hypotonie
- Viszerale Nerven
- kardiovaskulär: Ruhetachykardie, Frequenzstarre
- gastrointestinal: Ösophagusdystonie, Gastroparese, Diarrhö, Obstipation, Cholezystopathie
- exokrines Pankreas: Ausfall der reflektorischen Sekretion
- urogenital: Blasenentleerungsstörung, erektile Dysfunktion, retrograde Ejakulation
- Folgen afferenter atonomer Denervierung
- fehlender Schmerz beu Koronarischämie
- fehlende vegetative Reaktion bei Hypoglykämie
- fehlendes Gefühl bei Blasenfüllung
- fehlender Hodendruckschmerz
- fehlender Wehenschmerz
Die klinische Diagnose einer PNP beruht vorwiegend auf der Anamnese- und Beschwerdeschilderung des Patienten und dem klinischen Befund.
Zur Anamnese gehören Fragen nach:
- sportlichen Fähigkeiten als Kind, Probleme beim Schuhkauf (hereditäre PNP?)
- häufigem Stolpern (distale Schwäche?)
- Schwierigkeiten beim Aufstehen aus tiefen Sesseln, aus der Hocke und beim Treppensteigen (proximale Schwäche?)
- Grunderkrankungen, die eine Neuropathie bedingen können (Diabetes, Nierenerkrankung, Kollagenose, maligne Erkrankungen, Knochen- und Gelenksschmerzen etc.)
- Operationen (Laminektomie etc.)
- Medikamenten, Drogen, Toxinen (insbesondere Alkoholmissbrauch)
- Autonomen Störungen und Anzeichen für Systemerkrankungen ( z.B. Sicca-Syndrom, vermindertes Schwitzen an den Extremitäten, Störungen beim Stuhlgang oder beim Wasserlassen, erektile Dysfunktion, Gelenkschmerzen, Hautveränderungen, Synkopen)
Neurologische Untersuchung:
- Reflexe (Abschwächung/Ausfall von Muskeleigenreflexen, insbesondere Achillessehnenreflex)
- Motorik (schlaffe, atrophische Paresen, vor allem Fuß-/Zehenheber)
- Sensibilitätsstörungen (z.B. socken-, strumpf-, handschuhförmige Störungen der taktilen Ästhesie/Algesie, Hyp- oder Anästhesie, Graphhyp- oder anästhesie, Störung des Lageempfindens, positiver Rombergtest, gestörter Seiltänzergang, Thermhyp- oder Anästhesie)
- Beteiligung von Hirnnerven
- Beteiligung des autonomen Nervensystems (Pupillenreaktion, Hauttrockenheit, orthostatische Hypotonie)
Laboruntersuchungen dienen in erster Linie dem Nachweis behandelbarer Ursachen der PNP. Zu den Standarduntersuchungen gehören hier:
- Basisdiagnostik (BSG, CRP, Differenzialblutbild, Elektrolyte, Leber- und Nierenwerte, Immunfixation, Bence-Jones-Proteinurie, TSH)
- Diabetes mellitus (Nüchternblutzucker, oraler Glukosetoleranztest, Blutzuckertagesprofil, HbA1c)
- Alkoholmissbrauch (Transaminasen, MCV, CDT, Vitamine)
- funikuläre Myelose (Vitamin B12)
Bei entsprechenden Hinweisen können ergänzenden Untersuchungen (einschließlich Liquordiagnostik) zum Ausschluss spezieller Krankheitsbilder erfolgen.
Neurophysiologische Untersuchungen:
Neurophysiologische Untersuchungen dienen vor allem dazu, das Vorhandensein einer generalisierten Schädigung des PNS nachzuweisen und den Verteilungstyp zu bestimmen (symmetrische/asymmetrische PNP, Schwerpunktneuropathie). Darüber hinaus lässt sich eine subklinische Mitbeteiligung des sensiblen Systems bei motorischer Neuropathie (und umgekehrt) erkennen. Eine Unterscheidung zwischen Polyneuropathien mit einer Axonschädigung (axonale PNP) oder mit einer Myelinschädigung („demyelinisierende" PNP) wird ebenfalls angestrebt, kann jedoch u. U. nur eingeschränkt möglich sein, da bei Ausfall großer, schneller Fasern eine deutliche Herabsetzung der Nervenleitgeschwindigkeit möglich ist, was eine „demyelinisierende" PNP vortäuschen kann.
Zu den neurophysiologischen Untersuchungen gehören:
- Elektromyographie
- Neurographie (sensibel und motorisch)
Eine Nervenbiopsie ist dann indiziert, wenn bei schwerer oder progredienter PNP die Diagnose mit weniger invasiven Mitteln nicht gestellt werden kann und sich aus der Diagnose eine Behandlungskonsequenz für den Patienten ergibt (z.B. Immunsuppression bei vaskulitischer PNP oder Lebertransplantation bei Amyloidneuropathie). In der Regel wird der N. suralis am Unterschenkel biopsiert, was spezialisierten Zentren vorbehalten sein sollte.
Zu den Differenzialdiagnosen gehören:
- Restless-Legs-Syndrom
- Engpass-Syndrome (z.B. Karpaltunnelsyndrom)
- Radikuläre Syndrome
- Neuritiden
Die Therapie der Polyneuropathie richtet sich nach der zugrundeliegenden Grunderkrankung. Dazu gehören z.B. bei diabetischer PNP eine bessere Blutzuckereinstellung, bei alkoholischer PNP eine strikte Alkoholkarenz plus Substitution von B-Vitaminen und bei Borreliose eine Antibiotikatherapie.
Bei neuropathischen Schmerzen aufgrund einer PNP werden zur symptomatischen Therapie folgende Substanzen empfohlen:
- Antikonvulsiva mit Wirkungen auf neuronale Kalziumkanäle (Gabapentin, Pregabalin)
- Tri- oder tetrazyklische Antidepressiva
- SSNRI (z.B. Duloxetin)
- Opioide
- Morphin-Agonist-Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer (MOR-NRI, z.B. Tapentadol)
- Alpha-Liponsäure (evtl. in Einzelfällen bei schmerzhafter diabetischer Polyneuropathie)
- Capsicain-Pflaster (evtl bei HIV-assoziierter schmerzhafter Polyneuropathie
Nicht-Medikamentöse Therapien :
- Transkutane Nervenstimulation (TENS) bei Schmerzen
- Physiotherapie (Stärkung der Muskulatur, Kompensation pathologischer Bewegungsabläufe)
- Ergotherapie
- Elektrobehandlung gelähmter Muskeln
- Physikalische Therapie (Wechsel- und Bewegungsbäder, warme und kalte Wickel)
- Psychotherapie (v.a. bei chronischen neuropathischen Schmerzen)
Die Prävention kann darin bestehen, bekannte Noxen wie Alkohol zu vermeiden, einen Vitamin B12-Mangel rechtzeitg auszugleichen oder einen Diabetes optimal einzustellen.
Deutsche Gesellschaft für Neurologie:
Diagnostik bei Polyneuropathien
Deutsche Gesellschaft für Neurologie:
Therapie akuter und chronischer immunvermittelter Neuropathien und Neuritiden
Deutsche Gesellschaft für Neurologie:
Diagnostik neuropathischer Schmerzen
Deutsche Gesellschaft für Neurologie:
Chronische neuropathische Schmerzen, Pharmakologische nicht interventionelle Therapie
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