Rektumkarzinom: Bestrahlung, Chemo und Geduld könnten Operation ersparen

ASCO 2021 Dr. Daniela Erhard

Oft lässt sich durch Abwarten aufs Skalpell verzichten. Oft lässt sich durch Abwarten aufs Skalpell verzichten. © fotomek, H_Ko – stock.adobe.com

Tumorkontrolle, Überleben und Lebensqualität verbessern – das sind die Ziele beim lokal fortgeschrittenen Rektumkarzinom. Inwiefern das mittels totaler neoadjuvanter Therapie und Watch-and-Wait gelingen kann, wurde nun in einer Expertenrunde diskutiert.

Für Darmspezialisten keine Seltenheit: Ein ansonsten gesunder 65-jähriger Mann klagt über frisches Blut im Stuhl und deutlichen Gewichtsverlust. In dem Fall, den Moderatorin Dr. Kellie Mathis, Mayo Clinic, Rochester, vorstellte, war der Grund für die Beschwerden schnell ausgemacht. Es handelte sich um ein mäßig differenziertes Adenokarzinom, das etwa 6 cm weit im Rektum wucherte und dort das Darminnere schon zu einem guten Teil ausfüllte. Während das CT noch keine Metastasen offenbarte, zeigte das MRT, dass die mesorektale Faszie mit betroffen war, der Tumor bis an den Anus reichte und bereits in eine Vene eingedrungen war. Die Klassifikation lautete somit T3a N1.

Ein sogenannter „ugly cancer“ und hoch aggressiv, stellte Professor Dr. Emmanouil Fokas, Universitätsklinikum Frankfurt, fest. Solche Tumoren sollten auf Basis einer totalen neoadjuvanten Therapie (TNT) behandelt werden. Eine Meinung, die nicht nur seine Kollegen im Plenum teilten, sondern auch das Publikum. Rund drei Viertel der Zuschauer hätten diesen Ansatz ebenfalls gewählt, wie eine Live-Abstimmung ergab.

Primäre Chemotherapie bringt Vorteile mit sich

Diese Methode erweitert die Radiochemotherapie (RCT) um eine vorangestellte Chemo. Professor Dr. Thomas George von der University of Florida erläuterte, dass sich das Risiko, letztlich an Metastasen zu sterben, durch solch eine systemische Chemotherapie am besten beeinflussen lässt. „Leider erhalten oder tolerieren zwischen 30 und 70 % derjenigen, die postoperativ Kandidaten dafür wären, keine Chemotherapie“, sagte der Onkologe. Als Bestandteil der TNT könne man sie aber sicher und erfolgreich verabreichen.

Allerdings gebe es auch noch viele offene Fragen. Unter anderem fehlt bislang die 1a-Evidenz, dass die Methode das Gesamtüberleben verbessert. Zudem ist es nicht sicher, ob man Patienten mit niedrigerem Risiko so übertherapiert.

Komorbiditäten können gegen Chemo sprechen

Auch für Prof. Fokas ist die Frage „Welche Therapie für welchen Patienten?“ noch nicht beantwortet. „Einerseits haben wir einen klaren Nutzen mit Bezug auf das krankheitsfreie Überleben und auch einen ersten Trend hin zu einem besseren Gesamtüberleben, zum Beispiel in der PRODIGE 23-Studie“, erklärte er. Andererseits seien die Betroffenen oft alt, hätten viele Komorbiditäten und vertrügen die nötigen Zyklen FOLFOX (Folinsäure (Leucovorin), 5-Fluorouracil, Oxaliplatin) oder CAPOX (Capecitabin, Oxaliplatin) nicht. Skeptisch zeigte er sich zudem, ob sich die Überlebensraten von 90 % bzw. 80 % nach drei und fünf Jahren, die mit den klassischen Ansätzen erzielt würden, noch signifikant steigern ließen.

Aktuelle Studien zur optimalen medikamentösen Zusammensetzung, zur Reihenfolge oder zur Dauer von RCT und Chemotherapie stellen daher auch den Organerhalt in den Fokus. So habe es bislang in der OPRA-Studie kaum einen Unterschied gemacht, ob man die Chemotherapie als Induktion oder Konsolidierung nutzt. Die Teilnehmer, denen initial ein distales Rektumkarzinom ohne Option auf Sphinkter­erhalt attestiert worden war, wurden durch die konsolidierende Variante jedoch mit 59 % vs. 43 % öfter von einer totalen mesorektalen Exzision (TME) verschont. „Die Sequenz könnte also eine Rolle spielen, wenn man ein nicht-chirurgisches Ergebnis anstrebt“, erläuterte Prof. George.

Eine klare Linie zum Vorgehen fehlt bisher

Den Eingriff wann immer möglich zu vermeiden – in den Leitlinien ist das noch nicht Standard, für Professor Dr. Angelita Habr-Gama, Universität São Paulo, steht es dagegen schon seit vielen Jahren auf der Agenda. Den eingangs beschriebenen Patienten hatte sie seinerzeit selbst behandelt. Er erhielt zuerst eine RCT mit 54 Gy und 5-Fluoruracil plus Leucovorin, wobei die Chemotherapie anschließend über zwölf Wochen fortgesetzt wurde. Danach folgte ein Restaging: Der Tumor war bis auf eine plaqueartige Masse nahezu verschwunden.

Darüber, wie der Patient am bes­ten weiter behandelt werden sollte, war das Plenum uneinig. Während Prof. George zur TME tendierte, hätte Prof. Fokas möglicherweise sogar noch länger chemotherapeutisch behandelt und das Restaging später vorgenommen. Auch zwischen den Studien auf dem Gebiet variiere die Therapiedauer, meinte der Frankfurter Radioonkologe. Eine Schwierigkeit für die Praxis: „Zu wissen, wann man stoppt und wann der richtige Zeitpunkt ist, um eine vollständige Response festzulegen, das ist die Herausforderung.“

Operation aufzuschieben kann sich lohnen

Prof. Habr-Gama riet hier zu Geduld. Man müsse den Patienten beobachten. Solange die Läsion nicht wächst, kontinuierlich zurückgeht und schließlich verschwindet, entsteht auch kein Schaden, wenn man letztlich doch operieren muss, so ihre Meinung. Diese Eingriffe hätten dann dieselben Ergebnisse wie zeitnah durchgeführte Operationen.

Einfach abwarten?

Wie das Watch-and-Wait-Registry veranschaulicht, kehrt bei etwa einem Viertel der nach diesem Prinzip Behandelten der Tumor innerhalb von zwei Jahren zurück. Aber: Wer im ersten Jahr kein Rezidiv bekam, hatte eine 88%ige Chance, dass das auch über die beiden Folgejahre so blieb. Danach stieg die Wahrscheinlichkeit sogar auf 97 %. Prof. Habr-Gama kontrolliert ihre Patienten daher mit der Zeit immer seltener. Im ersten Jahr sehe sie die Betroffenen jedes Vierteljahr zur digital-rektalen Untersuchung, Endo­skopie und im Zweifelsfall auch MRT. Im zweiten Jahr nur noch alle vier Monate, danach in halbjährlichen Abständen. Konsens war jedoch, dass es oft noch an der Expertise für ein solches Vorgehen mangelt und es diesbezüglich noch keine nationalen Programme gibt.

Sie entschied sich im genannten Fall, nochmals acht Wochen abzuwarten. Mit Erfolg: Die Läsion war anschließend nicht mehr zu sehen und zu tasten, und das MRT deutete mit einem MR-TRG (Magnetic resonance tumor regression grade) von 1 ebenfalls auf eine komplette Response hin.

Quelle: Mathis K et al. 2021 ASCO Annual Meeting (virtuell); Session „Locally Advanced Rectal Cancer: So Many Options, What to Do?“

Kongressbericht: 2021 ASCO Annual Meeting (virtuell)

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Oft lässt sich durch Abwarten aufs Skalpell verzichten. Oft lässt sich durch Abwarten aufs Skalpell verzichten. © fotomek, H_Ko – stock.adobe.com