Multiple Sklerose: Neue MS-Leitlinie setzt auf Praxisnähe

Autor: Manuela Arand

© iStock.com/Eraxion

Im Frühjahr 2019 kommt die neue deutsche S2k-Leitlinie zur Multiplen Sklerose. Erste Einblicke lassen erahnen, dass Umbrüche bevorstehen.

Ein wichtiger Punkt war, die Leitlinie von jeglichen Interessenkonflikten freizuhalten, betonte Professor Dr. Bernhard Hemmer von der Neurologischen Klinik und Poliklinik vom Klinikum rechts der Isar der TU München. Damit reagiert die Fachgesellschaft auf die öffentliche Debatte, ob Autoren von MS-Guidelines auf der Pay-Roll der Pharmaindustrie stehen und ob die Ärzteschaft ihrer Verantwortung bei den Ereignissen um die Marktrücknahme von Daclizumab gerecht geworden ist. Also mussten alle Teilnehmer finanzielle Zuwendungen der zurückliegenden drei Jahre offenlegen – abstimmen durften nur die, die keine firmenspezifischen Interessenkonflikte zum infrage stehenden Thema hatten.

Als Diskussionsgrundlage diente die 2018 veröffentlichte europäische MS-Guideline.1 Sie umfasst 21 Statements, die dem deutschen Gremium aber vielfach zu allgemein und wenig praxisrelevant erschienen, um sie unkommentiert durchgehen zu lassen. Als Beispiel zitierte Prof. Hemmer den Punkt E4, der kurz gefasst besagt: Bei der Wahl zwischen den zahlreichen Medikamenten für die RRMS sollten Patientenmerkmale und Begleiterkrankungen, Schweregrad und Aktivität der MS, Sicherheits- und Nebenwirkungsprofil des Arzneimittels sowie dessen Verfügbarkeit berücksichtigt werden. „Zu global, selbstverständlich, durch keine Studien belegt“, so lautete das Urteil der deutschen Gruppe, die der Streichung mit 17 von 17 Stimmen zustimmte.

Dass zum ersten Mal auch Patientenvertreter mit am Leitlinien-Tisch saßen, ist schon dem ersten Statement anzumerken: Vor Therapiebeginn sollen mit dem Patienten realistische Therapieziele vereinbart werden (wohlgemerkt: „sollen“ – das entspricht einer starken Empfehlung). Soll-Ziele sind auch die Verhinderung bzw. Reduktion von Krankheitsschüben und radiologischer Progression sowie der Erhalt der Lebensqualität. Für die Verminderung der subklinischen, rein radiologisch messbaren Krankheitsaktivität ist eine schwächere Sollte-Empfehlung formuliert. „Wir brauchen diese Diagnostik aber natürlich, um die Krankheitsaktivität zu monitorieren“, meinte Prof. Hemmer.

Immuntherapeutika in drei Stärkekategorien

Breiten Raum wird die Immuntherapie einnehmen. Die Substanzen werden anhand ihrer Wirkstärke auf Schubrate, MRT-Aktivität und schubbedingte Behinderungsprogression in drei Gruppen unterteilt. Die Reihenfolge innerhalb der Gruppe erfolgt jeweils alphabetisch:

  • In Kategorie 1 stehen Betainterferone, Dimethylfumarat, Glatirameroide, Teriflunomid und in Klammern Azathioprin – formal zwar für die MS zugelassen, aber letztlich ein Nischenpräparat, erklärte Prof. Hemmer.
  • Kategorie 2 umfasst Fingolimod und Cladribin.
  • In Kategorie 3 finden sich Alemtuzumab, die CD20-Antikörper, Natalizumab sowie Mitoxantron, wegen der Nebenwirkungen ebenfalls in Klammern.

Dass auf der Liste „CD20-Antikörper“ steht und nicht nur Ocrelizumab, hat mehrere Gründe, erklärte Prof. Hemmer. Rituximab besitzt zwar keine Zulassung für die MS, hat aber praktisch den gleichen Wirkmechanismus und identische immunologische Effekte wie Ocrelizumab. Viele MS-Patienten nehmen es bereits. Entsprechend gibt es Phase-2-Studiendaten, Register- und Langzeitdaten zu Wirksamkeit und Sicherheit sowohl bei RRMS als auch PPMS. Last not least kostet es fünf- bis zehnmal weniger als Ocrelizumab. Der Einsatz erfolgt natürlich off label und erfordert die Zustimmung der Krankenkasse und des Patienten samt Freistellung vom Haftungsrisiko. „Ein Formblatt dafür bereiten wir gerade mit den Juristen vor“, berichtete Prof. Hemmer.

Konkrete Empfehlungen für Eskalation und Deeskalation In Kategorie 1 gibt es keine Präferenz, hier richtet sich die Auswahl nach Patientenpräferenz und Komorbiditäten. In Kategorie 2 sollte primär Fingolimod eingesetzt werden, bis mehr Daten vorliegen, um die Sicherheit von Cladribin erneut zu bewerten, erklärte Prof. Hemmer. Die Wahl in Kategorie 3 richtet sich vor allem nach dem JCV-Status: Bei negativem Testbefund ist Natalizumab erste Wahl. JCV-Antikörper- positiven Patienten kann es zwar in Ausnahmefällen ebenfalls – maximal 24 Monate – gegeben werden. Allerdings erhalten CD20- Antikörper oder Alemtuzumab den Vorzug. Außerdem wird die Leitlinie konkrete Empfehlungen formulieren für Therapiebeginn, Eskalation und Deeskalation. Hier laufen aber noch letzte Abstimmungsprozesse.

Quelle: Kongressbericht, Neurowoche 2018